Den Darmkrebs verhüten

Es ist ein faszinierender, beeindruckender Kosmos, der da im Dunkeln des Bauches verborgen liegt: ein weitläufiges Labyrinth mit acht Meter langen verschlungenen Wegen und – dank der Zotten – einer Gesamtoberfläche von 400 bis 500 Quadratmetern. Er ist Heimat eines Großteils unseres Immunsystem, Produzent von Hormonen und Botenstoffen und Manager für die Nährstoffaufnahme, ihre Verteilung und die Ausscheidung all dessen, was uns nicht länger nützt.

Wir wissen Einiges über den Darm – aber längst noch nicht alles.

Professor Dr. med. Friedrich Hagenmüller, Ärztlicher Direktor in der Asklepios Klinik Altona, Chefarzt der Gastroenterologie, ist einer von denen, die mehr über den Darm wissen als die meisten Deutschen. Einer seiner Lieblingssätze: "Ich habe in meinem Leben sicher schon eine Kleinstadt gespiegelt." Doch hinter dem Lächeln und seinem feinen Humor, der diesen Satz begleitet, verbirgt sich trotz aller Fortschritte und Präventionsangebote eine bittere Wahrheit: Darmkrebs ist in Deutschland immer noch die zweithäufigste tödliche Krebsart.

 

WARUM KANN MAN DAS VERHINDERBARE NICHT VERHINDERN?

 

Jedes Jahr werden etwa 60.000 Männer und Frauen mit dieser Diagnose konfrontiert. 25.000 von ihnen sterben daran. Wenngleich sich die Anzahl der Toten innerhalb der letzten Jahre um etwa 5000 reduziert hat, ist Prof. Hagenmüller immer noch entsetzt darüber – ganz besonders vor dem Hintergrund dieser Erkenntnis: "An Darmkrebs muss man nicht sterben. Die rechtzeitige Vorsorge kann Leben retten, und die Untersuchung tut nicht einmal weh."

Was die Vorsorge betrifft, geht der Experte mit gutem Beispiel voran. "Ich habe schon mehrfach Vorsorgeuntersuchungen gemacht. Und ich war auch einer der ersten, der die neue Kolon-Videokapsel geschluckt hat. Beides ist schmerzlos. Erfreulicherweise waren die Ergebnisse jedesmal sehr beruhigend. Ich habe allerdings das große Glück, dass ich erblich nicht vorbelastet bin. Es gibt in meiner Familie keinen Darmkrebs. Und hinzu kommt, dass ich gesund lebe." Diejenigen, die in ihrer unmittelbaren Familie schon Darmkrebserkrankungen erlebt haben, sollten schon ab 25 mit der Vorsorge beginnen!

Zur gesunden Lebensweise, die dazu beiträgt, Darmkrebs zu verhüten, gehört für Hagenmüller neben einer hochwertigen und maßvollen Ernährung der Verzicht aufs Rauchen und auf zu viel Alkohol, ausreichend Schlaf und Bewegung an der frischen Luft. "Wenn wir nicht wirklich mal wieder typisches Hamburger Schietwetter haben, fahre ich nicht mit dem Auto in die Klinik, sondern mit dem Fahrrad. Das sind immerhin morgens und abends jeweils zehn Kilometer… an der Elbe entlang.“ 

Patientenzeit als Privileg

Wir kennen uns seit Jahren aus verschiedenen Interviews. Dass Prof. Hagenmüller immer wieder auf den Listen der Top-Ärzte zu finden ist, liegt nicht nur an seinem Weltruf, sondern auch daran, dass ihm dieser nicht zu Kopf gestiegen ist. Einfühlsam bei der Untersuchung, kritisch in der Auseinandersetzung, nie zu müde, um über das zu sprechen, was ihm am Herzen liegt: der Darm. Die Vorsorge. Die Verhütung der nächsten potenziellen Krebserkrankung. Er nimmt sich Zeit für die Menschen, die sich ihm anvertrauen: "… für jeden Patienten im Vorgespräch mindestens eine halbe Stunde, meist mehr. Ich bin dankbar, dass ich mir das leisten kann, für die Menschen da zu sein. Zeit zu haben, sich Zeit zu nehmen empfinde ich als Privileg. Die Vorstellung,  einen nach dem anderen im Minutentakt durchschleusen zu müssen, wäre für mich Folter. Kürzlich war eine Frau bei mir, die hatte woanders mit einer Koloskopie schlechte Erfahrungen gemacht. Sie war total verkrampft, hatte Angst vor einer erneuten Darmspiegelung. Ich habe ihr zugehört, sie von der Angst befreit, ihr alles in Ruhe erklärt. Eine Koloskopie ohne dieses intensive Gespräch wäre anders gar nicht möglich gewesen." Wem die Untersuchung einfach zu unheimlich oder zu peinlich ist, kann mit einer leichten Kurzzeitnarkose in einen Dämmerschlaf versetzt werden und wenn er oder sie wieder aufwacht, ist alles vorbei.

 

Welche Rolle spielt bei Prof. Hagenmüller integrative Medizin? Der Arzt wiederholt die Frage mit einem Lächeln: "Die integrative Medizin? Ich bin der Meinung, es gibt den ganzheitlichen Patienten, der ganzheitliche Medizin verdient. Ich behaupte einmal, dass ich in meinem Arztleben nie etwas anderes gemacht als ganzheitlich zu behandeln. Ich habe immer das Ganze im Blick – es muss doch auch mein Anspruch sein, nicht nur ein Organ oder ein Symptom im Auge zu haben! Ich wäre komplett beleidigt, wenn der Patient nach dem Besuch bei mir sagen würde: Vielen Dank... und jetzt gehe ich noch mal in Ruhe zu einem Arzt, der mich ganzheitlich behandelt..."

 

Mindestens 10 Stunden ist der Gastroenterologe täglich in der Klinik. Mittlerweile kommen nicht nur Patienten aus ganz Deutschland zu ihm, sondern auch Betroffene aus anderen Ländern – besonders aus dem arabischen Raum. Wie schafft man so einen Arbeitstalltag? "Erstens", sagt er, "muss man seinen Beruf lieben. Hundertprozentig. Und zweitens: Man braucht ein medizinisches Umfeld mit intakter Struktur und hochkarätigen Kollegen. Und drittens muss zu Hause alles stimmen. Ich habe das Glück einer starken Frau an meiner Seite. Sie unterstützt mich und hat 'nebenbei' noch unsere vier Kinder groß gezogen. Acht Enkel machen dann natürlich so ein Glück komplett..."

 

DER APPETIT KAM QUASI BEIM ESSEN…

 

War seine Leidenschaft für die Medizin schon früh ausgeprägt? Oder haben seine Eltern, beide ebenfalls Ärzte, ihrem Sohn vielleicht einen Schubs in Richtung Medizin gegeben? Er schüttelt energisch den Kopf. "Nein, nein. So etwas wie Berufung habe ich als junger Mann nicht gespürt. In meinen alten Kinderalben werden Sie nicht einmal ein Foto finden, in dem ich mit einem Spielzeugstethoskop Puppen abhorche. Nein, bei mir kam der Appetit quasi beim Essen. Je mehr ich mich mit der Medizin beschäftigt habe, desto mehr entwickelte sich meine Neugierde." Er räumt ein, dass der Lehrer, bei dem er Vorlesungen zum Thema 'innere Medizin' gehört hat, eine Lichtgestalt für ihn gewesen sei. Er habe ihn mehr oder weniger zufällig auch an die Gastroenterologie geführt, denn am Ende einer Vorlesung habe er an die Tafel geschrieben: "Ich habe eine Doktorarbeit zu vergeben..." Das war für Hagenmüller der Moment, an dem es für ihn Zeit war, so zu handeln, wie er immer gehandelt hat: entschlossen! "Es war immer mein Ziel, die Aufgaben, die mir gestellt wurden und die ich übernommen habe, auch wirklich gut zu machen."

Das hat sich bis heute nicht geändert. Auch wenn man meinen könnte, dass er inzwischen jeden Griff im Schlaf beherrscht, stellt der Darmkrebs ihn vor immer neue Aufgaben.

Was genau ist das eigentlich: Darmkrebs? "Ein bösartiger Tumor (Geschwulst) im Dickdarm und Mastdarm, auch Enddarm genannt", erklärt er. "Bösartige Tumore im Dünndarm sind im Gegensatz dazu selten. Den Dickdarmkrebs nennen wir Kolonkarzinom, den Mastdarmkrebs Rektumkarzinom. Beide zusammen sind als kolorektales Karzinom bekannt. Die Tumore entwickeln sich aus den Drüsenzellen der Darmschleimhaut." Wer ist gefährdet? "Jeder kann an Darmkrebs erkranken", sagt Hagenmüller. "Allerdings: Männer wie Frauen über 50 erkranken häufiger daran als Jüngere."

Welches ist aus seiner Sicht die effektivste und treffsicherste Methode zur Früherkennung? Der Doktor: „ Mit der Vorsorgedarmspiegelung lässt sich Darmkrebs zu nahezu 100 Prozent verhindern. Regelmäßig angewandt können hierbei fast alle Polypen gefunden und abgetragen werden. Darüber hinaus werden Darmtumoren in einem frühen Stadium entdeckt, in dem sie noch heilbar sind."

Im Gegensatz zu dieser millionenfach erprobten klassischen Methode (der Spiegelung von innen) steht die virtuelle Koloskopie: "Als High-Tech-Verfahren ermöglicht sie quasi eine 'Darmspiegelung von außen'. Mit den Verfahren der Computertomographie (CT) oder der Magnetresonanztomographie (MRT) werden Schichtaufnahmen vom Bauchraum erstellt, die mit Hilfe eines 3D-Computerprogrammes in ein räumliches Bild vom Darm umgewandelt werden. Am Bildschirm kann der Arzt dann den Darm nach verdächtigen Bezirken absuchen." 

 

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Tumore und Polypen ab einer Größe von acht Millimeter lassen sich gut erkennen. Der Vorteil der Methode ist, dass kein 1,40 Meter langes Endoskop in den Darm eingeführt werden muss. "Der Nachteil ist", so Prof. Hagenmüller, "dass, wenn ein Polyp entdeckt wird, sich eine normale Darmspiegelung anschließen muss, um den Polypen oder anderes Gewebe mit Hilfe des Endoskops zu entfernen."

Gibt es Alarmsignale? Der Spezialist: "Also, der bösartige Tumor kommt schleichend und oft völlig unbemerkt. Er warnt seine Opfer leider nicht durch frühe Alarmzeichen und macht sich oft lange nicht bemerkbar. Das ist die Tücke. Wenn man erst mit typische Beschwerden wie Leibschmerzen, Stuhlunregelmäßigkeiten oder sichtbaren Blutauflagerungen zum Arzt geht, ist die Krankheit oft schon weit fortgeschritten. Die Früherkennung spielt deshalb bei Darmkrebs eine so herausragende Rolle, und – ich wiederhole –  sie ist im Rahmen der Vorsorgeuntersuchung die wirksamste Waffe gegen diese Erkrankung."

 

WUNSCH & WIRKLICHKEIT

 

Die Realität ist, dass immer noch viel zu wenig Menschen zur Vorsorge (mit 50 Stuhltest, mit 55 Koloskopie, zahlt die Kasse) gehen… und dann eines Tages mit der bitteren Wahrheit konfrontiert werden: "Sie haben Krebs!" Spätestens das ist der Moment, an dem über die weitere Behandlung gesprochen werden muss – aber auch über den Tod. "So ein Gespräch", sagt Prof. Hagenmüller, " ist nie ein leichtes, ein gutes Gespräch. Wir sind dem Patienten alle Informationen, also die ganze Wahrheit schuldig. In anderen Ländern gehört es zum Praxisalltag, dem Patienten nur die halbe Wahrheit zu sagen, weil man ihn nicht belasten will... das lehne ich ab. Ich befürworte es dagegen, dass der Patient bei dem Gespräch nicht allein mit mir ist, sondern Menschen dabei hat, die ihm wichtig sind, ihn lieben. Andererseits gibt es auch Männer und Frauen, die das erst einmal ganz mit sich allein ausmachen möchten. Und dann hinterher die Familie oder ihre Freunde informieren." Auch das gehört zum Respekt gegenüber dem Patienten, dass er seinen eigenen Weg wählt.

 

Gibt es Gespräche, die auch für ihn die 'normale' Belastbarkeit überschreiten? "Ja", nickt er, "wenn mir junge Leute gegenübersitzen, junge Familien. Kürzlich war eine Frau Ende 20 mit ihrem Mann in meinem Zimmer. Sie hatte Darmkrebs, Brustkrebs, Metastasen im Bauchraum... und zu Hause hatte sie ein kleines Kind." Man sieht ihm an, wie sehr ihm eine solche Situation unter de Haut geht. "Die Eheleute möchten in solchen Momenten natürlich wissen, wie sie ihr Leben planen können, ob sie es überhaupt noch gemeinsam planen können." Und was sagt er dann? "Wir sind nur Ärzte. Wir können für Leben keine Garantie geben. Aber wenn die Menschen mein Zimmer verlassen, müssen sie wissen und auch fühlen, dass wir alles geben, unser ganzes Wissen, unsere ganze Leidenschaft, damit sie wieder gesund werden. Das ist leider die einzige Garantie, die wir geben können." 

Wenn er einen Wunsch frei hätten für die Zukunft der Medizin... welcher wäre das? Hagenmüller muss nicht lange überlegen: "Ich würde mir wünschen, dass sich die Medizin auf das konzentrieren kann, was an Krankheiten unvermeidbar ist. Ich würde mir wünschen, dass die Menschen mehr Eigenverantwortung übernehmen, dass sie wirklich zur Vorsorge gehen, dass all die Krankheiten, die durch Bewegungsmangel, falsches Essen, Rauchen, zu viel Alkohol ausgelöst werden, wegfallen. Mit dem Rest sind wir immer noch gut beschäftigt! Aber dann könnten wir uns aufs Wesentliche konzentrieren. Und das wäre wirklich toll."

 

@Text: Hans-Heinrich Reichelt, Fotos: Suzanne Eichel, Asklepios Klinik Altona, fotolia.com, Felix Burda Stiftung, Fokus

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