Die Forschung

Pallia: umhüllen, einen Mantel umlegen. Die WHO beschreibt Palliativmedizin als "einen Ansatz zur Verbesserung der Lebensqualität von Patienten und ihren Familien, die mit den Problemen konfrontiert sind, die mit einer lebensbedrohlichen Erkrankung einhergehen, und zwar durch Vorbeugen und Lindern von Leiden, durch frühzeitiges Erkennen, gewissenhafte Einschätzung und Behandlung von Schmerzen sowie anderen belastenden Beschwerden körperlicher, psychosozialer und spiritueller Art."

 

Das ist nicht leicht zu verwirklichen in einer Kultur, in der der Tod der Feind ist, der oft bis zur völligen Sinnentleerung auf Kosten des Sterbenden bekämpft wird. Der Mantel, der umgelegt wird (pallia) ist weniger ein schützender als einer des verstörten Schweigens oder des Siegen-Wollens um jeden Preis. Die Angst erstickt die Liebe.

"Patienten", sagt Palliativ-Experte Dr. med. Matthias Kreft, "wissen meist sehr gut, wie es um sie bestellt ist. Sie haben ein intuitives Gefühl dafür. Es sind oft die Verwandten, die nichts von der Wahrheit wissen wollen." Doch manchmal ist es auch genau umgekehrt. Kann man Sterben lernen… so, wie man sich auf eine Geburt vorbereiten kann?

 

Als "katastrophal" beschreibt Dr. Kreft die Versorgungslage von Patienten im Jahr 2005, als die Idee zu einem Palliativ-Stützpunkt im ländlichen Ammerland erstmals aufkeimte. Die Situation war menschenunwürdig. Sie ging komplett an der Realität vorbei.

Sie betrifft 80.000 Patienten pro Jahr in Deutschland, die eigentlich zu 90 Prozent gern zu Hause sterben würden, aber nur zu 10 - 20 % entsprechend betreut werden können. "Mit einem flächendeckenden System könnte man das umkehren", sagt der Arzt, der in Westerstede und weit darüber hinaus ein entsprechendes Zeichen gesetzt hat.

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MEHR LEBENSQUALITÄT STATT STERBEHILFE

 

Die Diskussion über Sterbehilfe und Sterbetourismus würde sich vielleicht erübrigen, wenn Menschen die Chance hätten, dass ihr Leben in Würde und weitgehend ohne Schmerzen zu Hause bei ihrer Familie zu Ende geht.

Doch ein Curriculum an einer Universität über Palliativmedizin und das, was sie an menschlichem und medizinischem Können erfordert, gibt es erst seit dem letzten Jahr. Die Situation, die uns alle (be-)treffen kann, wird immer noch schlichtweg ignoriert in der medizinischen Versorgung.

 

Seit Elisabeth Kübler-Ross forderte, zum Thema Sterben am besten die Sterbenden selbst nach ihrer Erfahrung zu befragen – was ihr äußerste Häme und Verachtung seitens der Ärzteschaft eintrug –, ist klar, dass im Angesicht des Todes mehr gebraucht wird als ein Nebenzimmer im Krankenhaus, in dem der Sterbende die Lebenden nicht stört.

 

DAS NAHELIEGENDE TUN

 

Im Reich zwischen Leben und Tod sind klare Aussagen schwer zu bekommen. Wo wohnt das Bewusstsein, wo geht es hin? Kommt es zurück? Was ist aus Sicht des Arztes wichtig zu wissen? "Dass es eine Einheit von Körper, Geist und Seele gibt", antwortet Dr. Kreft ohne das geringste Zögern. "Das ist wichtig, um zu erkennen, inwieweit ich meine eigene (schmerzstillende) Endomorphinausschüttung aktivieren kann, wie ich meine Selbstheilungskräfte wecken kann. Dass ich, wenn ich mein Wohlbefinden körperlich oder seelisch verbessere, sich auch alles andere verändert." Cicely Saunders hat den Begriff des Total Pain geprägt. Er beschreibt, vereinfacht gesagt, die Summe allen Schmerzes, der uns im Sterbeprozess quälen kann. "Man muss versuchen", sagt Matthias Kreft, "diesen seelischen Schmerz zu lesen. Sonst ist der körperliche nicht wirklich beeinflussbar." Versteht man ihn jedoch, dann lässt sich die Menge der Schmerzmedikation oft reduzieren.

 

DAS AMMERLAND-KONZEPT

 

Die Auseinandersetzung mit diesem Sterbeprozess hat im Konzept des ambulanten Palliativ-Stützpunktes dazu geführt, dass  

  • die versorgende Familie die Möglichkeit hat, die Schmerzen ausreichend zu lindern
  • sie ein gutes Krisenmanagement bei Atemnot, Übelkeit oder Blutungen beherrscht
  • der Patient die Sicherheit hat, dass immer jemand im Hintergrund da ist und jederzeit kommt, wenn er oder sie jetzt stirbt.

"Wir haben auch das erste ambulante Ethik-Komittée gegründet", sagt Matthias Kreft, "es setzt sich aus 20 ehrenamtlichen Bürgern zusammen: Ärzte, Juristen, Pastoren, Sozialarbeiter, Mitarbeiter von Pflegeeinrichtungen. Wir werden 80 Stunden lang von eimem Ethiker geschult, damit wir Fragen beantworten können wie: Ist es sinnvoll, eine Therapie abzubrechen? Oder sie überhaupt erst anzufangen?" Er nennt ein Beispiel: "Nimmt man Nahrungsmittelsonden, haben überhaupt nur 3 von 100 Patienten ihrem Einsatz zugestimmt. Sind die erstmal gelegt, wird die Indikation nie wieder überprüft. Das ist respektlos gegenüber dem Patienten."

Die Erfahrung, was menschlich sinnvoll und zumutbar ist, muss den Mangel an Forschung ersetzen oder zumindest auf sinngebende Weise ergänzen. Allein schon deshalb, damit diese Fakten in Zukunft nicht mehr Leben und Sterben beherrschen:

  • 40 Prozent der Deutschen schätzen die Situation Sterbender als einsam, anonym und unwürdig ein
  • 75 % sterben in Krankenhäusern und Pflegeheimen, in Großstädten vermutlich 90 % (1920 starben 80 % der Menschen zu Hause), obwohl sie das eigentlich nicht möchten
  • eine ausreichende Ausbildung im Symptom- und Schmerzmanagement Sterbender ist in der Medizinausbildung nur unzureichend vorhanden.

ENDLOSES BEWUSSTSEIN – neue medizinische Fakten zur Nahtoderfahrung, Pim van Lommel, Kindle Edition, 12,99 Euro

ÜBER DEN TOD UND DAS LEBEN DANACH, Elisabeth Kübler-Ross, gebundene Ausgabe, 12,95 Euro 

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