Am Ende ein Neuanfang

In dem Haus, das keine Kinder hat, gibt es kein Licht...

Ein Sprichwort, das aus dem Arabischen überliefert ist. Ich kann diese Erkenntnis aus vollem Herzen unterschreiben. Seit über 30 Jahren weiß ich, wie es sich anfühlt, wenn gleich doppeltes Licht ins Haus scheint. Und ich bin glücklich darüber jeden Tag!

Doch was mir ein Leben lang so selbstverständlich erschien, das wird mir in diesem schwarz-weiß-roten Wartezimmer allmählich klar, ist keineswegs immer gegeben. Hier zu sitzen, als Mann, und zu erkennen, dass es nicht so leicht ist wie gedacht, einen Sohn zu zeugen und einen Apfelbaum zu pflanzen: Das ist harter Tobak.

Die Frau, die nun um die Ecke biegt und mich mit einem freundlichen Lächeln zum Interview empfängt, ist Dr. med. Andrea Salzbrunn. Sie leitet den Bereich Andrologie im Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE). Das Wort Andrologie leitet sich vom Griechischen "andros" = Mann und "logos" = Lehre ab. Andrologie ist also die Lehre vom Mann und kann auch als "Männerheilkunde" übersetzt werden. Andrologie ist somit das Gegenstück zur Frauenheilkunde, der Gynäkologie. 

Die Menschen, die ihren Weg zu der Spezialistin finden, kennen meist beide Fachbereiche schon in- und auswendig. Sie haben eine Zeit voller Warten und Bangen hinter sich. Und diese Zeit mündet irgendwann in die Erkenntnis: So wird das nichts.

Die Patienten, die ins Haus W 38 (Seitenflügel) in den ersten Stock zu Dr. Salzbrunn kommen, haben eines gemeinsam: den unerfüllten Wunsch nach einem Baby. Etwa jedes sechste Paar in Deutschland hat Schwierigkeiten mit dem Kinderkriegen. Doch der unerfüllte Kinderwunsch ist längst nicht mehr nur Frauensache – wenn er es überhaupt je war. Experten schätzen, dass die Ursachen zu jeweils 40 Prozent bei Mann oder Frau liegen und in 20 Prozent der Fälle bei beiden Partnern zu finden sind. "Während Frauen ganz offen beim Kaffeeklatsch über die weibliche Fruchtbarkeit sprechen, ist das bei Männern nach wie vor tabubeladen", weiß Dr. Andrea Salzbrunn aus Erfahrung und ergänzt: "Erektionsfähigkeit wird von vielen immer noch mit Fruchtbarkeit gleichgesetzt. Viele Männer gehen automatisch davon aus, wenn Erektion und Samenerguss funktionieren, dann wird schon alles in Ordnung sein." 

Es wäre schön, wenn es so einfach wäre. Doch in Wirklichkeit dämmert auf unserem Kontinent ein Problem herauf, dass sich von Jahr zu Jahr zu verschlimmern scheint. Die Konzentration der männlichen Spermien nimmt insgesamt rapide ab. Die Fertilität europäischer Männer nähert sich inzwischen einem Bereich, der von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) als kritisch eingestuft wird. In Zahlen heißt das: So mancher Mann hat pro Milliliter Samenflüssigkeit weniger als die 15 Millionen Spermien, die aktuell als unterer Referenzwert der WHO angegeben werden. Das klingt zunächst viel. Mit dem Wunsch, Nachwuchs zu zeugen, kann es dann allerdings mühsam werden. In den letzten fünfzig Jahren ist die Spermienanzahl bei gesunden Männern um rund 50 Prozent (!) gesunken. Männer, die nach 1980 zur Welt gekommen sind, erreichen häufig noch deutlich geringere Werte. Die Spermienkonzentration ist aber nicht der einzige wichtige Wert, auch die Qualität der Spermien und damit ihre Befruchtungsfähigkeit entscheidet. Hier gilt ebenfalls, dass das Minimum von 4% normal geformten Spermien von vielen Männern nicht mehr erreicht wird. Die bei Männern schon immer mit Scham beladene Ausnahme steuert eventuell auf eine Regel zu.

Wie weiß man, was normal ist?

Das Wissen um die Spermien ist das Ergebnis der sogenannten EDEN-Studie, die im Jahr 2003 durchgeführt wurde. Wie schlecht es wirklich um den Mann steht, wollten zahlreiche Wissenschaftler im Rahmen des Internationalen Forschungsprojektes EDEN (Endocrine Disrupters) herausfinden. Das UKE nahm innerhalb der EDEN-Studie die "Fruchtbarkeit deutscher Männer unter Berücksichtigung umweltbedingter Schadstoffeinflüsse von der Embryonalzeit bis zur Adoleszenz" unter die Lupe. Etwa 1000 junge Männer zwischen 17 und 23 Jahren wurden dazu befragt und untersucht. Dr. Andrea Salzbrunn betreute diese Studie, die von der Europäischen Union und dem Umweltbundesamt mit fast 450.000 Euro gefördert wurde. Und die Ergebnisse waren schockierend. Sie sind bis heute nicht in dem Ausmaß, in dem es nötig wäre, ins gesellschaftliche Bewusstsein vorgedrungen.

 

WER IST DIES FRAU, DIE SICH AUF MÄNNER SPEZIALISIERT HAT?

Dr. Andrea Salzbrunn reicht Kaffee und ein paar Plätzchen herum. Bevor wir der Frage nachgehen "Wann ist der Mann ein Mann?", die Herbert Grönemeyer nie wirklich erschöpfend beantworten konnte, möchte ich gern mehr über die Ärztin wissen, die mir hier gegenübersitzt.

Warum ist sie überhaupt Ärztin geworden? Und warum ausgerechnet im Bereich der (Un-)Fruchtbarkeit?

Sie lehnt sich zurück. "Eigentlich wollte ich nach dem Abi eine Tischlerlehre machen und danach Kunsthistorik studieren. Aber mein Vater hat mich direkt nach dem Abi genötigt, ein Pflegepraktikum im Krankenhaus zu machen." Der resolute Vater war Arzt, ein geschätzter und vor allem vielbeschäftigter Hausarzt in Hamburg, der immer für seine Patienten verfügbar war und sogar Entbindungen machte. Andrea Salzbrunn: "Er war eigentlich der Grund dafür, dass ich mir während der Schulzeit geschworen hatte, NIE Medizinerin zu werden. Mein Vater war für mich als seine Tochter eher abschreckend als Vorbild: Ich hatte einen Vater, der nie zu Hause war. Für jeden hatte er Zeit – nur für seine Familie nicht." Nein, genau das wollte sie unter keinen Umständen!

Dennoch beugte sie sich seinem Wunsch, absolvierte ihr Praktikum und war – wie sie selbst noch heute zu ihrer eigenen Verwunderung sagt – "total infiziert von der Medizin". Andrea Salzbrunn bewarb sich um einen Studienplatz, bekam den auch gleich für‘s nächste Semester. Nun gab es kein Zurück.

Doch wie wurde aus der jungen Ärztin dann eine Männerärztin? "Das war eher ein Zufall", erzählt sie. "Ich hatte bereits als Chirurgin in mehreren Praxen gearbeitet, als mich der Chef der UKE-Andrologie, mit dem ich persönlich bekannt war, fragte, ob ich nicht Lust hätte, bei ihm zu arbeiten. Er hätte eine Stelle frei."

Sie kam und blieb, "...weil die Andrologie ein ganz spannendes Fach in der Medizin ist, und weil es mir bis heute gefällt, mit jungen, hochmotivierten Männern zu tun zu haben, die zwar ein Problem haben – möglicherweise ist es auch gar nicht so klein –, aber ein großes Ziel vor Augen: endlich ein Baby zu bekommen."

Die Spermien-Situation ist der Grund für den unerfüllten Kinderwunsch: die mangelhafte Spermiendichte, zu wenig, zu unbeweglich!

Doch wo sind die Ursachen dafür? Manchmal sind sie dramatisch und offensichtlich: Hodenkrebs zum Beispiel mit anschließender Chemotherapie oder Bestrahlung kann eine massive Belastung für die Fruchtbarkeit darstellen. Manchmal sind die Gründe subtiler, aber nicht minder gravierend: der Genuss von zu viel Alkohol, Nikotin oder harten Drogen ist Gift für die Samenproduktion. Langes Sitzen auf dem Fahrrad oder zu enge Hosen, die im Schritt kneifen, attackieren die Zeugungskraft des Mannes. "Stimmt alles", bestätigt Dr. Andrea Salzbrunn. Und erklärt: "Aber all diese Gründe machen nur einen kleinen Teil aus. Und – wenn man entsprechend lebt – erholen sich die Hoden nach fünf bis sechs Monaten wieder. Sogar nach einer intensiven Chemo- oder Strahlenbehandlung in Folge einer Krebserkrankung kann etwa ein bis zwei Jahre später die Spermienproduktion wieder einsetzen. Neue Studien belegen, dass die Problematik zu sage und schreibe 95 Prozent schon weitaus früher beginnt – und zwar im Mutterleib."

Weichmacher – der Name ist Programm

Die wirklich heimtückische Gefahr mit ebenso gravierenden wie irreparablen Auswirkungen auf die Fruchtbarkeit eines Mannes lauert in Chemikalien, die uns überall in unserem Alltag begegnen: Weichmacher! Es sind Produkte wie Plastik, Duschvorhänge, Tapeten und Teppichböden, die diese sogenannten Phthalate enthalten. Hinzu kommen Waschmittel, Pestizide sowie Kosmetik. Die Schadstoffe dringen in den Körper ein und stören dort den Hormonhaushalt des werdenden Kindes. 

Weichmacher wirken in unserem Körper ähnlich wie Hormone, da die Strukturen einander ähneln. Das Ungeborene ist normalerweise durch die Plazenta gut geschützt. Diese Chemikalien jedoch durchdringen sie und gelangen so in den Organismus des Embryos. Dort angekommen, rufen sie entweder eine Reaktion hervor, die sonst nur ein Hormon auslösen würde oder aber sie docken an Rezeptoren eines Hormons an und blockieren so dessen eigentliche Wirkung. Wenn auf diese Weise künstliche, nicht benötigte Östrogene hergestellt werden, kommt es in der Phase der Entwicklung der Fortpflanzungsorgane beim Embryo zu einer Störung der sogenannten Sertoli-Zellen. Sie sind die Nährzellen, die für die spätere Spermienproduktion zuständig sind. Einer schwangeren Frau rät Dr. Andrea Salzbrunn daher zu so wenig Kontakt wie möglich mit Plastik, Kosmetik, Waschmittel und Wandfarben. Besonders belastend könnten Renovierungsarbeiten während der Schwangerschaft sein, wenn die werdende Mutter Dämpfe von Farben, Lacken oder Lösungsmitteln einatmet. 

Das heißt: Die scheinbaren zivilisatorischen Errungenschaften der 60er und 70er Jahre – nämlich Kunststoff und Plastik in jeder Form und Farbe – haben zunächst unbemerkt eine stille Katastrophe ausgelöst. Für nahezu alle Produkte, die durch Weichmacher o. ä. die Fruchtbarkeit reduzieren, gibt es unbedenkliche Alternativen. Auf der Homepage des Umweltbundesamtes unter www.csn-deutschland.de finden Sie detaillierte Angaben.

 

DER WEG ZUR SPEZIALISTIN

Etwa 2000 Männer sind es im Jahr, die in der Andrologie des UKE im wahrsten Sinne des Wortes ihre Hosen runterlassen.

Dr. Andrea Salzbrunn: "Bevor die Männer zum persönlichen Gespräch kommen, haben sie bereits einen sehr ausführlichen Fragebogen ausgefüllt und ihn uns geschickt. So habe ich schon jede Menge Informationen und kann mir ein Bild machen über Ernährungsgewohnheiten, bisherige Untersuchungen von Mann und/oder Frau." 

Kommen die Männer allein oder mit ihrer Partnerin?

"Das ist unterschiedlich", sagt sie, "doch meist mit ihrer Frau. Und meist war sie schon bei ihrem Gynäkologen, der dann die Untersuchung des Mannes empfohlen hat. Manche Paare waren auch schon im Kinderwunschzentrum – leider ohne Erfolg. Dann kommen sie zu mir, um quasi die letzte Meinung zu hören, bevor sie möglicherweise aufgeben."

Das letzte Wort hat das sogenannte Spermiogramm – das Ergebnis einer Untersuchung der Samenzellen. Die Auswertung der Probe kann zum Beispiel zeigen, ob für einen unerfüllten Kinderwunsch eine schlechte Qualität oder eine unzureichende Menge an Samenzellen verantwortlich ist. Das Spermiogramm ist die wichtigste Methode zur Beurteilung der männlichen Zeugungsfähigkeit (Fertilität). Unter dem Mikroskop überprüft man die Anzahl (bzw. Dichte) und Beweglichkeit der Samenzellen in der Samenflüssigkeit:

  • Ist die Spermienzahl vermindert, liegt eine sogenannte Oligozoospermie vor (im Extremfall enthält die Samenflüssigkeit gar keine Samenzellen – dann spricht man von Azoospermie).
  • Ist die Beweglichkeit der Spermien vermindert, bezeichnet man dies als Asthenozoospermie.

Außerdem untersucht man beim Spermiogramm die Form (Morphologie) der Samenzellen in der Samenflüssigkeit: Normale, reife Samenzellen sind zusammengesetzt aus einem ovalen Kopf, der den Zellkern und somit die DNA enthält, einem Hals- und Mittelstück sowie einem Schwanzstück. Sie sind beweglich, um selbstständig die Eizelle erreichen zu können, und ihr Kopf enthält Enzyme, mit deren Hilfe sie die Eihülle durchdringen können.

 

Was Sie schon immer über "das Zimmer" wissen wollten

Für die Samenabgabe gibt es in der UKE-Andrologie ein Zimmer, das man im weitesten Sinne als funktionell bezeichnen könnte: ein paar Pornohefte auf dem Tisch, auf Knopfdruck flimmert ein Erotikfilm über den Bildschirm. "Die Männer entscheiden", sagt die Ärztin, "sie können allein ins Zimmer – und sie können natürlich auch ihre Partnerin mitnehmen." Mit der prickelnden Erotik von "50 Shades of Grey" hat dieser Besuch wenig zu tun.

Wie auch immer die Wahl ausfällt: Etwa sechs Tage später kennt Dr. Andrea Salzbrunn den Befund und bespricht ihn mit dem Paar. Dieses Gespräch dauert erfahrungsgemäß länger als das erste Kontaktgespräch, denn jetzt geht es um eine Entscheidung. Und die wird normalerweise von beiden getroffen. "Wir können natürlich hier die Spermien nicht verbessern", sagt die Expertin, "aber wir können Hilfestellungen geben, Anleitungen für lebensverändernde Maßnahmen."

Und die, das zeigen diverse Studien, können einen großen Unterschied bewirken. "Wir können integrative Behandlungsmethoden und Ernährungsumstellungen empfehlen, damit sich die Spermien erholen bzw. vermehren. Danach kann das Paar versuchen, auf natürlichem Weg schwanger zu werden." Das wäre dann so etwas wie der Idealfall.

"Wir können auch Samenzellen direkt aus dem Hodengewebe (TESE) entnehmen und für eine Befruchtung außerhalb des Körpers (ICSI) vorbereiten. Für den gleichen Zweck können wir Spermien nach einer normal abgegeben Samenprobe einfrieren. Eine Befruchtung außerhalb des Körpers wird natürlich nicht bei uns gemacht, sondern in den Kinderwunschzentren. Da sind wir sozusagen der Zubringer für die Reproduktionsmedizin."

 

EIN SENSIBLER MOMENT

Wie verlaufen solche Gespräche?

Dr. Salzbrunn: "Meist in guter Atmosphäre. Aber ich erlebe auch Frauen, die ihre Männer brutal unter Druck setzen, etwa so: Wenn das hier nicht klappt, dann hat mein Mann keine Frau mehr."

Auweia, das klingt hart...

Die Ärztin: "Das ist es auch. Ich sage den Frauen dann: 'Bitte, seien Sie nicht so böse zu Ihrem Mann, das hat er nicht verdient. Er kann doch nichts dafür...' Aber es ist schon wahr: Am unerfüllten Kinderwunsch können Beziehungen zerbrechen."

Ich greife noch einmal die Grönemeyer-Frage auf: Wann ist der Mann ein Mann? Sie lacht, aber ihre Antwort ist durchaus ernst gemeint: "Wenn er sich frühzeitig, bewusst und gemeinsam mit dem Andrologen um die Gesundheit seiner Fortpflanzungsorgane bemüht. Die ist nämlich keinesfalls selbstverständlich." Weil es ihr nicht reicht, nur zu reden, hat die Spezialistin, Mutter von drei Töchtern und einem 12-jährigen Sohn, verheiratet mit einem Arzt, Nägel mit Köpfen gemacht. Sie wird noch in diesem Jahr mit Hamburger Schulen ein Vorsorgeprojekt starten. "Ich möchte bei den Jungen das Bewusstsein für ihren eigenen Körper schulen. Sie sollen lernen, was in den Hoden passiert, wie groß die Hoden sein sollten; sie sollten wissen, worauf sie achten müssen."

Kommen die Jungen zu ihr in die Klinik oder geht sie in die Schulen?

"Ich bin für beides offen", antwortet die Fachfrau, "aber ich denke, ich nehme den Jungs die Schwellenangst, wenn ich zu ihnen in die Schule gehe.“ 

Beim Abschied erzähle ich Dr. Salzbrunn von der arabischen Überlieferung, dass nur in dem Haus Licht sei, in dem es auch Kinder gäbe. Und ich frage sie, wie oft es ihr gelungen ist, Licht in den Häusern zu entzünden? 

Sie führt mich in ihr Zimmer, in dem die Dankschreiben von Eltern hängen und jede Menge Fotos. Sie deutet auf die Tafel mit all den Kindern, die ihre Entstehung der Arbeit von Dr. Salzbrunn ein Stück weit verdanken und lacht herzhaft. "Weihnachten kriegen wir normalerweise so viel Kekse, dass wir sie nicht alle essen können."

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