Schicksal in seinen Händen

Seine Mutter hatte es schon früh geahnt. "Der Junge hat so schöne lange Finger - der kann bestimmt mal ein guter Chirurg werden..."

Das Leben sollte ihr Recht geben. Und so stelle ich in Anbetracht vieler dankbarer und künftiger Patienten die Frage: "Wie schützen Sie eigentlich Ihre Hände, Professor Eisenschenk?“

Er schaut mich verblüfft an. "Gar nicht, ich lebe ganz normal..." Nach einem weiteren Moment des Nachdenkens fällt ihm auf, dass er aus der schmerzlichen Erfahrung, die andere gesammelt haben, durchaus seine eigenen Verhaltensregeln ableitet: "Also, ich fahre nicht Motorrad, Silvester knalle ich nicht mit Polenböllern. Und ich habe zu Hause auch keine Kreissäge..." Die Kreissäge. Wir werden später noch auf dieses verhängnisvolle Teil zurückkommen.

Wir sind zu Gast bei Prof. Dr. med Andreas Eisenschenk, der auch schon mal mehr als respektvoll Handpapst genannt wird. Seine genaue Position: Chefarzt der Abteilung für Hand-, Replantations- und Mikrochirurgie im Unfallkrankenhaus Berlin (ukb).

Eigentlich immer, wenn in der Hauptstadt oder in der Umgebung jemand Gefahr läuft, einen Finger, eine Hand oder einen Arm zu verlieren – sei es durch einen Unfall oder durch Krankheit –, ist Professor Eisenschenks Kunstfertigkeit gefragt. "Mit den Händen", sagt er, "begreifen wir unsere Umwelt. Wir gestikulieren mit der Hand, wir geben uns die Hand zur Begrüßung, wir brauchen sie bei den meisten unserer Aktivitäten. Eine gesunde Hand zu haben, ist für uns alle selbstverständlich. Was sie aber wirklich bedeutet, wissen wir erst, wenn wir sie nicht mehr haben."

Die Vorstellung ist verstörend, dass der Verstand sie kaum umfassen kann. Und dennoch kann sie in Sekunden Wirklichkeit werden.

INTERVIEW

Dabei geht es in der Abteilung von Prof. Eisenschenk natürlich nicht nur um die Replantation – also das Wiederannähen eines abgetrennten Körperteils – pro Jahr etwa 60 Hände, Arme, Finger – unter Wiederherstellung der Durchblutung. "Unser Ziel ist es, den Patienten zu einer möglichst guten und vollständigen Wiedererlangung der Handfunktion zu verhelfen."

Es geht auch um das gesamte Operationsspektrum der Handchirurgie. Und das reicht von Operationen bei Nervenkompressionssystemen (z.B. Karpaltunnelsyndrom, an dem immer mehr regelmäßige Computermaus-Benutzer leiden) über den Tennisellenbogen und Handtumoren bis zur Gelenkspiegelung (Arthroskopie) bei chronischen Schmerzen am Handgelenk.

 

WIE AUS PRAGMATISMUS LEIDENSCHAFT WURDE

In Spandau hat der 1957 geborene Andreas Eisenschenk die Freiherr-vom-Stein-Oberschule besucht, und fragt man ihn, warum er Arzt geworden ist, dann kommt erst einmal eine kurze, knappe Antwort, und die lautet. "Ich dachte mir: Krank werden die Menschen immer - dieser Berufszweig hat Zukunft." 

Das ist jedoch nur die halbe Wahrheit. Mit der anderen Hälfte, der eigentlichen Geburtsstunde für seine Entscheidung, Medizin zu studieren, wurde er während der Schulzeit an einem Vormittag konfrontiert. "Ich wurde quasi Zeuge eines Verkehrsunfalles, bei dem eine Frau schwer verletzt wurde. Sie lag auf der Straße, war bewegungslos, musste reanimiert werden. Ich habe gesehen, wie der Notarzt der Frau half, wie er Zugänge legte, so dass sie sich nach wenigen Minuten wieder bewegte und in die Klinik transportiert werden konnte.“  Andreas Eisenschenk sah, was die Medizin kann: helfen, retten, Leben bewahren!

Weil er nicht sofort nach dem Abi einen Studienplatz bekam,  absolvierte er erst einmal im Evangelischen Waldkrankenhaus, wenige Straßen von seinem Elternhaus entfernt, eine Ausbildung zum Krankenpflegehelfer. "Dort habe ich alles gemacht, Pillen verteilt, alten Damen den Po abgewischt - meine Begeisterung für die Medizin war nicht zu stoppen." 

Hatte Eisenschenk schon damals das, was man ein Helfersyndrom nennen könnte? "Ja", nickt er, "bestimmt. Das ist bis zum heutigen Tag ausgeprägt. Und das ist auch gut so. Wenn das eines Tages verloren gehen sollte, funktioniert auch alles andere nicht mehr." 

Andreas Eisenschenk kehrte seiner Heimat Berlin seit seiner Ausbildung nur kurz den Rücken: Zwei Jahre lang arbeitete er an der Klinik für Thorax-, Herz- und Gefäßchirurgie der Georg-August-Universität Göttingen. Ein halbes Jahr lang bildete er sich in Kanada fort auf dem Gebiet der lebenden Transplantate. Doch es zog ihn aber immer wieder zurück in die deutsche Metropole.

In Berlin lernte er auch den unvergessenen Prof. Dr. Emil Sebastian Bücherl, der sich ein Leben mit der Entwicklung eines Kunstherzens beschäftigte, kennen, "bei dem ich Venen rausnehmen durfte, die man dann für die Herz-Operation benötigte." 1986 bekam der junge Eisenschenk eine Stelle an der Orthopädischen Universitätsklinik im Oskar-Helene-Heim in Zehlendorf, engagierte sich mit Beginn im Zentrum für die Replantation abgetrennter Gliedmaßen und übernahm bald dessen Leitung.

Als 1997 das Unfallkrankenhaus Berlin eröffnete, ging er mit vier weiteren Kollegen dorthin. "Mittlerweile", und das sagt Professor Eisenschenk zu Recht voller Stolz "ist das Unfallkrankenhaus DAS Replantationszentrum." 

Hauptursache: häusliche Unfälle.

Wie und wo passieren die meisten Unglücksfälle, die die Opfer dann zu ihm führen? Der Chirurg: "In den meisten Fällen sind Kreissägen Schuld. Aber auch der falsche Umgang mit Cutter-MessernRasenmähern und Silvester-Böllern sind häufige Unfallursachen. Bei Verkehrsunfällen trifft es überwiegend Motorradfahrer."

Eine Frage, vor die man nicht so oft gestellt wird - aber wenn - dann ist es schon sinnvoll, das Richtige zu tun: Wie gehe ich als Unfallzeuge mit dem Amputat um?

Der Professor: „Gute Frage. Perfekt ist natürlich, wenn Sie alle Teile des Amputats finden. 2. Manipulieren Sie nicht am Amputat, also weder waschen noch auf sonstige Art säubern oder desinfizieren.“

Und dann? "Die Aufbewahrung sollte – wie wir es nennen – nach der sogenannten Zweibeutelmethode erfolgen. Das heißt: Wickeln Sie das Amputat möglichst in einem sterilen Tuch ein und legen Sie das Amputatpäckchen dann in einen ersten wasserdichten Plastikbeutel. Diesen sorgfältig verschlossenen Plastikbeutel legen Sie idealerweise danach in einen zweiten wasserdichten Beutel, der mit kaltem Wasser mit Eiswürfeln (im Verhältnis 1:1) gefüllt ist. Beide Öffnungen der Beutel sollten verknotet sein. Was ganz wichtig ist: Das Amputat darf niemals direkt mit Eis in Kontakt kommen, da es sonst zu Gefrierbrand kommt und eine Replantation nicht mehr möglich ist.“

 

WELCHE ROLLE SPIELT DER FAKTOR ZEIT?

Professor Eisenschenk: "Ungekühlt hält ein abgetrennter Finger acht bis 14 Stunden ohne Durchblutung durch. Eine ganze Hand nur bis zu acht Stunden. Gekühlt sind es sogar bis zu 24 Stunden."

Wenn dann alles gut in der Klinik ist, wenn das Team bereit steht, um in einer aufwändigen Operation (meist dauert der Eingriff zwischen sechs und 12 Stunden) – was ist dann das Ziel einer Operation?

"Die komplette volle Wiederherstellung ist so gut wie nicht möglich", antwortet der Experte offen. "Deshalb verfolgen wir vor der Entscheidung zum Eingriff und während des Eingriffes grundsätzlich zwei Hauptziele: Wir wollen das Gefühl wieder herstellen und die Bewegung. Denn, eine Hand ohne Gefühl ist wertlos und möglicherweise sogar gefährlich." Warum? "Sie spüren nichts, wenn Sie die Hand auf die Herdplatte legen...". Und eine Hand ohne Funktion ist auch wertlos. "Eine Krallenhand, die man nicht mehr bewegen kann, ist sogar eher störend als hilfreich."

Was passiert, wenn bereits vor dem Eingriff erkennbar ist, dass die beiden Hauptziele nicht zu erreichen sind? Der Spezialist: "Wenn eines von beiden hinterher nicht da ist, macht die Replantation keinen Sinn. Dann verzichten wir lieber darauf und behandeln den Patienten so, dass später Prothesen sein Leben wieder lebenswert machen können."

Gibt es Fälle, die kaum Hoffnung versprachen und dennoch im OP und bei der späteren Rehabilitation ein gutes Ende genommen haben? "Natürlich", nickt Professor Eisenschenk und schildert ein paar: das Drama um die 12jährige Charlyn aus Rudow. Das Kind war Opfer eines Bombenanschlags auf seine Eltern geworden. Die Bombe, die im Briefkasten der Eltern deponiert war und explodierte, zerfetzte Charlyns rechten Arm. Der Knochen im Oberarm wurde von der Detonation zerschmettert, Haut und Weichteile wurden zerstört. An Charlyns Unterarmen fehlten 50 Prozent der Haut, als das Mädchen im Unfallkrankenhaus eintraf. Obendrein fehlte ein langes Stück der Hauptarterie. Professor Eisenschenk: "Das war eine Herausforderung für das gesamte Team. Ohne einen erfolgreichen Eingriff hätte das Mädchen in Zukunft ohne einen eigenen Unterarm leben müssen. Aber in mehreren Operationen ist es uns gelungen, Charlyns Leben wieder lebenswert zu machen. Sie hat Gefühl im Arm, kann mit den Fingern greifen und den Arm sogar drehen." 

In der ersten OP wurden die Arterien mit Venentransplantaten von anderen Körperstellen rekonstruiert und die Knochen mit Metallplatten und Nägeln stabilisiert. Weil immer mehr Gewebe abstarb, deckten die Ärzte die Hauptschlagader in einer zweiten OP mit einer Art Lappen aus transplantierter Haut und Muskel von Charlyns Oberkörper ab. Insgesamt operierten Professor Eisenschenk und sein Team Charlyn sieben Mal. Jeden Tag wird der Professor seitdem an ihr Schicksal erinnert. Er zeigt auf ihr Foto in seinem Büro: "Sie ist ja immer bei uns schaut uns bei der Arbeit zu..."

 

Mikrokleine Feinstarbeit

Ein anderer Fall: Ein Bauarbeiter war von einem Baugerüst aus einer Höhe von 34 Metern abgestürzt und in einem Betonring gelandet, bevor er auf die Station zu Professor Eisenschenk kam. Der Mann hatte nicht nur eine Oberschenkelfraktur, sondern hatte bei dem Aufprall tragischerweise beide Arme verloren. Der Chirurg: "Meine Schwester – auch Ärztin – war damals als Notärztin im Rettungswagen unterwegs. Sie brachte beide Arme fachgerecht in Tüten zu uns ins ukb, so dass wir dann im OP die Rettungsaktion starten konnten." Am Ende hat der Mann einen Arm verloren. "Aber den anderen", erzählt Professor Eisenschenk, "konnten wir retten." Er schweigt einen Moment. "Und das Leben des Mannes auch." Was schon allein bei einem Sturz aus einer solchen Höhe an ein Wunder grenzt.

 

VOM AFFEN GEBISSEN

Schlagzeilen in der Hauptstadt machte die dramatische Geschichte des einstigen Zoodirektors Blaszkiewitz. Er hatte Bekannten die Tiere im Zoo zeigen wollen und dabei Affe Pedro durch die Gitterstäbe mit Obst gefüttert. Dabei zog das kräftige Alphamännchen den rechten Arm des Biologen durchs Gitter und biss zu. Als Blaszkiewitz in der Klinik ankam, hing sein rechter Zeigefinger nur noch mit einer Sehne an der Hand. Sieben Stunden dauerte die Operation. Doch an den darauffolgenden Tagen wurden die Befürchtungen der Spezialisten Realität: Der Affe hatte offenbar Keime übertragen, der Finger entzündete sich und musste doch wieder abgenommen werden.

 

Professor Eisenschenk ist Chirurg mit Leib und Seele. Er hat sich u.a. deshalb für die Handchirurgie entschieden, weil man das Ergebnis seiner Arbeit immer ziemlich schnell sieht. Schnell ist in seinem Fall relativ: Die OP-Termine am Tisch dauern manchmal viele Stunden, und bei den Eingriffen ist nicht nur eine 2,5 Millimeter starke Lupenbrille notwendig und manchmal sogar ein Mikroskop, das eine 10- bis 40fache Vergrößerung ermöglicht („Ich will schließlich sehen, was ich operiere...“), sondern auch nicht nachlassende Konzentration.

Wie schafft man das? Gibt es Patentrezepte?

"Nein, nein", er schüttelt den Kopf, "die gibt es nicht. Aber es macht schon Sinn, entsprechend zu leben. Kein Nikotin, so gut wie keinen Alkohol, in keinem Fall auch nur den kleinsten Schluck Wein vor eingeplanten Operationen."

Ansonsten ist für ihn körperliche Fitness der Schlüssel. Und das heißt: Sport, im speziellen Laufsport. Eisenschenk, der schon als Jugendlicher an Zehnkampf-Wettbewerben teilgenommen hat, ist ein leidenschaftlicher Läufer. Zwei bis dreimal pro Woche geht er am Berliner Schlachtensee joggen, und wer versuchen sollte, ihn im Halbmarathon zu schlagen, der muss erst mal schneller sein als eine Stunde, 29 Minuten und 27 Sekunden...

18 Jahre lang ist der Mediziner Chefarzt im Unfallkrankenhaus Berlin –

der Deutschen Gesellschaft für Handchirurgie steht er als Sekretär zur Verfügung, obendrein ist er Leiter des Bereichs Hand- und funktionelle Mikrochirurgie der Universitätsmedizin Greifswald, Buck-Gramcko-Stiftungsprofessur – abgesehen davon zählt er zu den renommiertesten Replantationschirurgen der Welt.

Welche Ansprüche hat ein solcher Topexperte an sein eigenes Team, an seine Chirurgen? Welche drei Werte bzw. Fähigkeiten  sind ihm besonders wichtig?

Da muss er nicht lange überlegen. "Erstens", sagt er, "ist mir natürlich die medizinische Kompetenz wichtig. Das ist das A & O. Unsere Chirurgen müssen erstklassig sein, das ist ja wohl klar. Manchmal setze ich mich auf den Stuhl neben den Chirurgen und beobachte ihn. Auf dem Video kann ich mir anschauen, ob das alles so ist, wie ich mir das vorstelle. Wenn Sie so wollen, ist das meine eigene Qualitätsprüfung."

Und zweitens? "Soziale Kompetenz hat bei mir große Bedeutung: Wie geht der Arzt, die Ärztin mit den Patienten um? Ich will nicht, dass der Patient für ihn nur eine Nummer ist. Das kommt nicht in Frage."

Damit sind seine Anforderungen noch nicht zu Ende. "Und drittens will ich nur teamfähige Kollegen und Kolleginnen in meiner Abteilung. Es kann nicht sein, dass jemand auf der Station nicht weiß, was zuerst zu erledigen ist und die anderen sitzen in der Cafeteria und trinken Kaffee. Es gibt nichts Schlimmeres als jemanden zu haben, der Unruhe in die Klinik bringt. Das macht den anderen Mitarbeitern keinen Spaß und der Patient leidet darunter. Möglicherweise leidet sogar seine Heilung darunter. Denn er merkt miese Stimmung, und die tut keinem gut – schon gar keinem, der bei uns ist, weil er krank ist und volle Aufmerksamkeit und Vertrauenswürdigkeit erwartet."

Wie bekommt er so einen Arzt, der genau in dieses Rasster passt?

Professor Eisenschenk lächelt: "Ganz einfach. Ich stelle nur jemanden ein, den ich persönlich kenne. Oder ich kenne jemanden, der jemanden kennt und ihn empfiehlt."

Eine Kollegin, die genau (und sicher auch ein bisschen mehr) in dieses Schema passt, hat mehr bekommen als einen Vertrag in seiner Klinik. Er hat um ihre Hand angehalten, und sie hat ja gesagt. "Sie ist Griechin", verrät Eisenschenk, "ich habe sie  1998 auf einem Mikrochirurgie-Kongress auf Korfu kennengelernt." Sofia Pappa-Eisenschenk ist in der Unfallbehandlungsstelle in Berlin-Wilmersdorf verantwortlich für eine spezielle Handsprechstunde des ambulanten berufsgenossenschaftlichen Kompetenzzentrums für die Stadt Berlin und ihr Umland (CRPS)Ein Arztehepaar mit der gemeinsamen Leidenschaft, anderen Menschen zu helfen. 

Und wann, Professor Eisenschenk, wird bei Ihnen mal nicht über Medizin gesprochen? "Sie stellen Fragen", schmunzelt er, "wenn wir mit unserer kleinen Tochter zusammen sind!"

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