Fluch der Gene

Die Nachricht des Arztes "Sie haben Krebs"“ ist für jeden Menschen, den es trifft, ein Drama! Krebs und Tod werden auch heute noch mit einander assoziiert und lösen – trotz weltweiter wissenschaftlicher Forschungen und Erkenntnisse, diagnostischer und therapeutischer Fortschritte – unvorstellbare Ängste aus! 

Dabei gibt es Formen, die die Dramatik und die Sorge noch steigern. Einer dieser besonders bösartigen Tumoren ist das so genannte medulläre Schilddrüsenkarzinom. Dabei handelt es sich um eine der erblichen Tumorarten, vergleichbar dem gefürchteten BRCA-Gen, das verantworlich ist für familär gehäuft auftretenden Brust- und Eierstockkrebs.

Das bedeutet: Männer und Frauen, die von dem medullären Karzinom betroffen sind und deren Kinder eine Mutation (Veränderung des Erbgutes) in sich tragen, müssen davon ausgehen, dass sie diesen Krebs an ihre Kinder weiterreichen. 

Was bedeutet das für die Betroffenen?

Prof. Dr. Henning Dralle erklärt den Ausweg: "Wir entnehmen den Betroffenen – manchmal schon Jungen und Mädchen zwischen drei und fünf Jahren – in einer Operation die gesunde Schilddrüse. Ein Organ, das es nicht mehr gibt, kann auch nicht krank werden."

Dennoch ist solch eine operative Prophylaxe ein tiefer Einschnitt mit gravierenden Folgen. Der Spezialist: "Ein Patient oder eine Patienten, egal wie jung, ist danach ein Leben lang darauf angewiesen, täglich das Schilddrüsen-Hormon Thyroxin einzunehmen. Das ist natürlich für den Patienten eine Bürde. Allerdings bekommt der Patient dafür andererseits (s)ein Leben geschenkt. Denn ein zu spät entdecktes medulläres Karzinom ist meist tödlich." 

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Wie muss man sich den Ablauf vorstellen, wenn Sie einen Patienten mit einem medullären Karzinom behandeln?

Prof. Dralle: "Wir besprechen das Thema der Krebs-Vererbung und checken, ob der Patient bzw. die Patientin ein Kind bzw. Kinder hat. Wenn ja, müssen wir intensiv miteinander reden. Wir erklären die Gefahr, wir bereiten die Spezialuntersuchung der Kinder vor und besprechen das weitere Vorgehen."

Was bedeutet das? "Kinder mit dieser Mutation kommen an einem Eingriff nicht vorbei. Aber wir überlegen immer gemeinsam mit den Eltern, so eine Operation so weit wie möglich hinauszuzögern, damit der Zeitraum der Hormon-Einnahme möglichst verkürzt werden kann." 

Der Professor weiter: "Solche Begegnungen sind bei aller Notwendigkeit sehr, sehr schwierig. Denn letztendlich steht dem jeweiligen Kind eine OP bevor, die man ihm erklären muss. Und man darf zudem nicht vergessen, dass wir so ein Gespräch zu einem Zeitpunkt führen, zu dem der Vater oder die Mutter selbst gegen diesen Krebs kämpft."

 

EINE SCHWERE & HOCH SENSIBLE ENTSCHEIDUNG

Das medulläre Schilddrüsenkarzinom (auch C-Zell-Karzinom genannt) geht nicht von den eigentlichen Schilddrüsenzellen (Thyreozyten) aus, sondern entwickelt sich aus den sogenannten C-Zellen. Diese Zellen produzieren das Hormon Calcitonin. Bei einem medullären Schilddrüsenkarzinom kommt es zu einer massiven Überproduktion von Calcitonin durch den Tumor. Dabei können starke Durchfälle auftreten, die aber wahrscheinlich nicht auf dem erhöhten Calcitoninspiegel beruhen, sondern die Folge bestimmter Substanzen sind, die vom Tumor produziert werden. Bei dem medullären Schilddrüsenkrebs sind Männer und Frauen gleich häufig betroffen. Die Zehn-Jahres-Überlebensrate liegt bei etwa 50 bis 70 Prozent.

 

Die ersten beiden Kinder in Deutschland, an denen Prof. Dralle eine solche Operation aufgrund eines Gentests vornahm, waren der fünfjährige Jannis und sein vierjähriger Bruder Jonas. Ihr Vater trug den Krebs in seinen Genen, an dem bereits sein Vater und dessen Großvater gestorben waren. Jannis und Jonas hatten bei aller Dramatik großes Glück: Erst kurz zuvor hatten britische Wissenschaftler das Gen entdeckt, um festzustellen, wer die Tumor-Veranlagung besitzt und wer nicht. Die Erkrankung hat einen Namen: MEN, Multiple endokrine Neoplasie, Typ 2a, Krebswahrscheinlichkeit 100 Prozent.

Mittlerweile hat Prof. Dralle mehrere hundert prophylaktische Schilddrüseneingriffe bei Kindern und Jugendlichen vorgenommen. "Eine wunderbare Methode", sagt er. Dabei ist er anfangs selbst skeptisch gewesen. Und Jannis und Jonas Vater: "Wir haben die Entscheidung nicht bereut. Wenn Jannis und Jonas eines Tages selbst eine Familie gründen wollen, werden sie vor denselben Fragen stehen wie wir. Das genetische Wissen lässt einen nie mehr ganz los. Aber ich bin froh, dass es so ist. Denn aufgrund des Wissens konnte ich meine Söhne teilweise vor den Folgen des Erbes bewahren, das ich ihnen weitergegeben habe."

Mehr Informationen: www.schilddruesenkrebs.de

 

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