Wissenschaft & Forschung

Die Ursachen männlicher Unfruchtbarkeit reichen von einer Mumpserkrankung in der Kindheit über Extremsport auf dem Fahrrad bis hin zu Autoimmunerkrankungen, bei denen der Körper die eigenen Samenzellen vernichtet. Das individuelle Hindernis herauszufinden, erfordert jede Menge detektivisches Gespür. 

Dr. Andrea Salzbrunn richtet ihre Aufmerksamkeit ganz besonders darauf, zu retten, was zu retten ist. Nach oder besser gesagt: vor einer hochaggressiven Chemotherapie zum Beispiel. Oder auch, wenn sich schon im Kindesalter Probleme abzeichnen, wie bei einem Hodenhochstand.

Können auch operative Eingriffe hilfreich sein?

Eine Frage, die  die Expertin klar beantwortet: Ja. An meiner Reaktion erkennt sie, dass ich von dem, was sie mit dieser OP erreichen will, kaum je etwas gehört habe: der Hodenbiopsie beim Klinefelter-Syndrom. Dr. Salzbrunn entnimmt bei diesem Eingriff Samenzellen quasi an der Quelle, ohne den "Umweg" der Ejakulation.  

Dass es heute für einen Mann mit Klinefelter-Syndrom möglich ist, Vater zu werden, ist der Wissenschaft und Forschung zu verdanken, die nun hier im UKE umgesetzt wird.

Die Voraussetzung dafür war, dass Wissenschaftler bei sehr vielen Heranwachsenden mit Klinefelter-Syndrom Spermien entdeckten – jedoch nicht im Ejakulat, sondern im Hodengewebe selbst. Entnimmt man diese Zellen mit Hilfe einer Biopsie, lassen sie sich aus dem Gewebe gewinnen und zur künstlichen Befruchtung nutzen. Das Geheminis ist, wie so oft in der Medizin, FRÜHZEITIG! Und vor allem muss eine Biopsie erfolgen, bevor eine Hormontherapie bei einem Mann begonnen wurde. Sie ist der Standard, um den Testosteronmangel und seine Folgen bei einem Mann mit Klinefelter-Syndrom auszugleichen. Doch genau diese Hormontherapie kann, im Gegensatz zu den körpereigenen Hormonen, die Bildung von Spermien deaktivieren!

Aus all diesen Erkenntnissen schloss die Wissenschaft Folgendes: Am besten ist es, das Gewebe schon in jungem Alter – idealerweise zwischen 16 und 20 Jahren – zu gewinnen. Das wiederum setzt  voraus, dass Eltern ihre Söhne und deren Entwicklung gut im Auge haben und ihnen bei Klinefelter-Verdacht, ohne Gefühle zu verletzen, zunächst einen Check Up und gegebenenfalls anschließend eine Gewebeentnahme aus den Hoden vorzuschlagen. 

 

DIE CHANCE AUF EIN KIND

Die auf solch operativem Weg gewonnenen Spermien können dann, wie alle anderen Proben auch, über Jahrzehnte durch Kryokonservierung aufbewahrt werden. 

Ist ein Mann mit dieser speziellen Chromosomen-Veränderung erst einmal erwachsen, sinken die Chancen beträchtlich, noch befruchtungsfähige Spermien zu finden. "Wenn man es dennoch versuchen will", so Dr. Salzbrunn, "muss die Gabe von Hormonen eine Zeitlang unterbrochen werden."

Doch dank so fein entwickelter Techniken wie der ICSI-Mtehode reichen im besten Fall wenige Samenzellen aus. Nach einer stimulierenden Hormonbehandlung bei der Frau, nach der dann meist mehrere reife Eizellen entnommen werden können, werden diese außerhalb des weiblichen Körpers mit den gewonnenen männlichen Samenzellen direkt befruchtet. Unterm Mikroskop wird dazu jeweils eine Samenzelle mit einer winzigen Kapillare direkt in jeweils eine dieser Eizellen injiziert. Auf diese Weise reichen selbst unbewegliche Spermien oder sogar deren Vorstufen für eine künstliche Befruchtung aus.
Wie geht es danach weiter? Man versucht, die so befruchtete Eizelle in einem Nährmedium zu mehreren erfolgreichen Zellteilungen zu stimulieren. Denn erst, wenn das gelingt, wird der winzige Fötus zurück in die Gebärmutter der Frau gesetzt. Doch das geschieht nicht in der andrologischen Abteilung von Dr. Salzbrunn, sondern in eigens darauf spezialisierten Kinderwunschzentren. 

 

Das Klinefelter-Syndrom (ausgesprochen: Kleinfelter) ist nach dem Arzt benannt, der es in den vierziger Jahren des letzten Jahrhunderts erstmalig beschrieb. Die Ursache liegt in einer Chromosomenstörung.

Zur Erklärung: Chromosomen befinden sich in jeder Zelle unseres Körpers. Sie liegen immer paarweise vor und tragen in einer genau festgelegten Reihenfolge unsere Erbanlagen (Gene). Der Mensch verfügt über 23 Chromosomenpaare. Eins davon legt das Geschlecht des Menschen fest: Bei Frauen besteht das Chromosomenpaar aus zwei X-Chromosomen, Männer haben ein X- und ein Y-Chromosom. Die restlichen 22 Chromosomenpaare sind bei Männern und Frauen identisch.

Beim Klinefelter-Syndrom sind die Geschlechtschromosomen jedoch anders verteilt: Statt dem normalen Chromosomenpaar mit einem X- und einem Y-Chromosom (Chromosomensatz 46,XY), wie er normalerweise bei Männern vorliegt, weisen Betroffene ein zusätzliches X-Chromosom in den Zellkernen auf (Chromosomensatz 47,XXY).

Etwa jeder 500. Mann ist von dieser genetischen Störung betroffen.

Wo die Größe tatsächlich zählt

Das Klinefelter-Syndrom ist nicht nur den meisten Patienten unbekannt. Auch ihre behandelnden Ärzte wissen in vielen Fällen nichts von der Möglichkeit und den Symptomen dieses XXY-Chromosoms. Von den 80.000 Betroffenen, die rein statistisch in Deutschland leben, werden lebenslang nur 10-15% diagnostiziert und therapiert. 

 

Die Deutsche Klinefelter-Vereinigung e. V. fasst zusammen:

  • In den ersten Lebensjahren gibt es praktisch keine Beschwerden. Die Jungen entwickeln sich völlig normal, sind intelligent. Eine gewisse Beeinträchtigung wird allerdings oft auf den Gebieten der Sprache und Motorik gesehen. Diese wird aber nur selten mit der genetischen Ursache in Zusammenhang gebracht.
  • Erst, wenn bei gleichaltrigen Jungen die Pubertät beginnt, sie eine tiefere Stimme bekommen und die ersten Bart- und Schamhaare sich zeigen, werden die Eltern aufmerksam. Der Penis und die Hoden bleiben kindlich klein, die Jungen sehen eher weiblich aus mit sogar leichten Brüsten (Gynäkomastie). Allerdings sind sie meist größer als der Durchschnitt ihrer Altersgenossen. Doch all diese Symptome müssen nicht auftreten oder bemerkt werden.
  • Daher werden nicht wenige Symptomträger überhaupt nie diagnostiziert oder erst dann, wenn sie sich wegen eines unerfüllten Kinderwunsches untersuchen lassen. 
  • Die Unfruchtbarkeit ist das einschneidendste Symptom des Klinefelter-Syndroms. Aufgrund des Testosteronmangels werden keine oder nur sehr wenige Spermien gebildet. 
  • Ob dieses Syndrom überhaupt vorliegt, kann der Arzt in jedem Lebensalter feststellen. Ein humangenetisches Gutachten bringt Gewissheit. Dabei wird eine Blutprobe auf Abweichungen vom normalen Chromosomensatz 46,XY untersucht. Dies kann sogar schon im Mutterleib bei der sogenannten Pränatal-Diagnose erfolgen.
  • Die bedeutendste Einschränkung für die Betroffenen, die sich derzeit auch nicht behandeln lässt, ist die stark eingeschränkte oder ganz fehlende Fähigkeit der Hoden, zeugungsfähige Spermien zu produzieren. Die Betroffenen bleiben daher auf natürlichem Weg kinderlos. Dies kann noch immer nicht medikamentös behoben werden.
  • Da die unterentwickelten Hoden der Betroffenen selbst kaum Testosteron produzieren, ist die Hormonersatztherapie die grundlegende Behandlungsmethode. Der größte Teil der körperlichen und psychischen Auswirkungen des Testosteronmangels kann durch eine individuell angepasste medikamentöse Behandlung mit Testosteron deutlich gebessert oder ganz vermieden werden.  

  • Testosteron steht als Medikament in Form von Spritzen, Gelen oder Pflastern zur Verfügung. Es stehen zwei verschiedene Arten von Spritzen zur Verfügung: Testosteron-Depot-Spritzen, die im Abstand von 2 bis 3 Wochen, sowie Langzeit-Depot-Spritzen, welche im Abstand von 2 bis 3 Monaten verabreicht werden. Die Gele werden täglich aufgetragen, z.B. auf die Oberarme. Die Pflaster werden alle zwei Tage erneuert.

    Tabletten werden heute kaum noch angewendet, da Testosteron im Verdauungstrakt zum Großteil zerstört wird und nicht besonders gut verträglich ist.

In Deutschland gibt es  die deutsche klinefelter-syndrom vereinigung e.V.  So kontaktieren Sie den 1. Vorsitzenden per E-Mail:  lars.gloeckner@dksv.de

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