Der Butterfly-Effekt

Die Chaos-Theorie besagt, dass der Flügelschlag eines Schmetterlings am anderen Ende der Welt einen Tsunami auslösen kann. Ein schönes Bild. Es trifft auch auf das schmetterlingsförmige Organ zu, das gleich vorn in unserem Hals das Reich der Hormone regiert: die Schilddrüse. Eine kleine Unregelmäßigkeit...  schon schlagen die Wellen hoch und höher.

Halle an der Saale, 333 Kilometer und 3.21 Zug-Stunden von Hamburg entfernt. Direkt mit dem ICE, ohne umzusteigen. Ich war zum ersten Mal dort... und ich bin froh darüber. Denn in Halle habe ich einen Mann getroffen, der Menschen anzieht wie ein Magnet. Sie kommen aus fast aller Herren Länder – Patienten, die sich der medizinischen Kunst des Schilddrüsenchirurgen anvertrauen. "Er hat goldene Hände", hat eine Mutter aus Russland gesagt, deren Kind er das Leben gerettet hat. Visite bei Prof. Dr. Dr. h.c. Henning Dralle, dem Direktor der Halleschen Universitätsklinik und Poliklinik für Allgemein-,Viszeral-und Gefäßchirurgie. Prof. Dralle ist der erste Europäer, der für seine international anerkannte Forschungsleistung auf dem Gebiet der Schilddrüsen-Chirurgie durch das Memorial Kettering Cancer Center in New York mit dem "Light of Life Foundation Award" ausgezeichnet worden ist. 

Nun sitzt er mir gegenüber. Vor ihm auf dem Schreibtisch steht ein Modell der Schilddrüse. Das schmetterlingsförmige Organ im Hals ist normalerweise nicht sichtbar, sein Einfluss auf den Körper kaum spürbar – solange alles richtig läuft. Eingebunden in einen fein justierten Regelkreislauf zwischen Hirnanhangdrüse und Hypothalamus produziert die Schilddrüse die lebenswichtigen Hormone T3 und T4, speichert Jod und steuert den Kalzium- und Phosphathaushalt im Knochen. Gerät die Schaltzentrale aus dem Takt, dann sind die Reaktionen heftig. Eine Schilddrüsenüberfunktion läßt das Herz rasen, die Betroffenen haben Durchfall, nehmen ab, sind nervös und reizbar. Eine Unterfunktion hingegen macht depressiv, die Haare stehen strohig zu Berge, die Darmfunktion stockt, das Gewicht klettert in die Höhe. Viele Funktionsstörungen der Schilddrüse können mit Hormonen oder Radiojod behandelt werden. Doch sehr häufig ist auch eine Operation notwendig.

 

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Genetisch bedingte Leidenschaft

Als Schilddrüsen-Chirurg ist er einer der begehrtesten der Welt. Wie kam es dazu?

Nun, Henning Dralle hat zwar nach dem Abitur in Kiel ein Semester Kirchenmusik studiert und das Orgelexamen absolviert. Aber das war nur ein kleiner Schlenker. Gleich danach konzentrierte er sich voll auf das, was ihm buchstäblich in seine Wiege gelegt wurde: die Chirurgie! Denn das große berufliche Vorbild war (nahezu) von Anfang an sein Vater – Chirurg und Chef eines Krankenhauses im niedersächsischen Celle. "Da gab es fast keine Bäuerin mit Gallenblaseproblemen, die mein Vater nicht operiert hatte", erinnert er sich schmunzelnd. Doch es war nicht nur die chirurgische Kunst, die den jungen Dralle so gefangen hatte.

Es war genauso das menschliche Engagement, das seinen Vater auszeichnete. "Er war ganz nah am Patienten. Er war immer für sie da, rund um die Uhr." Der Professor lacht: "Er wußte natürlich auch, dass die Bäuerin oder ihr Bauer ihn lange verfolgen würde, wenn sie nicht zufrieden gewesen wäre mit seinem Eingriff…" Seine Augen blitzen. 

Vor dem Hintergrund dieser Erkenntnis klingt Prof. Dralle bis heute ein Satz im Ohr, den sein Vater ihm wieder und wieder sagte: "Wenn Du Arzt bist, musst Du Dich um den Menschen kümmern. Du musst Verantwortung für den Menschen übernehmen – nicht nur für die Operation.“ 

Genau diese Philosophie erlebte der Chirurg auch viele Jahre später, als er an der Medizinischen Hochschule Hannover mit einem der großen Pioniere der Transplantationschirurgie zusammenarbeitete: Prof. Dr. Rudolf Pichlmayr. Er war das zweite prägende Vorbild für Dralle.  

"Die medizinische Kompetenz eines Arztes erwartet der Patient zu recht", so Dralle, "aber nur eine wirklich gute Kombination von Medizin und Menschlichkeit macht den Kranken wieder gesund, bringt ihn wieder auf die Beine."

 
SCHILDDRÜSENKREBS: MANCHMAL EXTREM BÖSARTIG

Die Menschen, die sich in der Uniklinik Halle/Saale von ihm und seinem Team operieren lassen, sind oftmals sehr krank. Viele von ihnen haben die Diagnose erhalten, die immer noch zu den Schlimmsten gehört: Krebs an einer der Hormone produzierenden Drüsen.

Der Großteil aller Schilddrüsenkarzinome lässt sich einem der folgenden vier Typen zuordnen. Sie unterscheiden sich hinsichtlich ihrer Behandlungsform und Prognose:

  • papilläres Schilddrüsenkarzinom: etwa 80 Prozent aller Fälle von Schilddrüsenkrebs
  • follikuläres Schilddrüsenkarzinom: etwa 10 Prozent
  • medulläres Schilddrüsenkarzinom (C-Zell-Karzinom, MTC): etwa 5 Prozent 
  • anaplastisches Schilddrüsenkarzinom (undifferenziertes Schilddrüsenkarzinom): etwa 3 Prozent

Ein papilläres Schilddrüsenkarzinom ist mit etwa 80 Prozent aller Fälle von Schilddrüsenkrebs der häufigste Typ. Frauen sind deutlich häufiger davon betroffen als Männer. Die Krebszellen breiten sich hierbei bevorzugt über das Lymphsystem aus (die so genannte lymphogene Metastasierung), sodass häufig auch die Lymphknoten am Hals betroffen sind. Bei adäquater Therapie kann ein papilläres Schilddrüsenkarzinom in etwa 80 Prozent der Fälle geheilt werden (Grundlage ist die Zehn-Jahres-Überlebensrate).

Das follikuläre Schilddrüsenkarzinom macht als zweithäufigster Typ etwa 10 Prozent aus. Es betrifft ebenfalls vorwiegend Frauen. Eine Ausbreitung der Krebszellen erfolgt hierbei vorwiegend über das Blut (hämatogene Metastasierung), sodass die Krebszellen sich häufig zum Gehirn oder in die Lunge ausbreiten. Die Heilungsaussichten sind zwar etwas schlechter als beim papillären Schilddrüsenkrebs, die Zehn-Jahres-Überlebensrate nach Behandlung beträgt aber immer noch etwa 60 bis 70 Prozent.

Das anaplastische Schilddrüsenkarzinom ist der seltenste Typ von Schilddrüsenkrebs und unterscheidet sich deutlich von den anderen. Es wächst sehr schnell und aggressiv und ist daher kaum heilbar. Frauen und Männer sind gleich häufig von diesem Schilddrüsenkrebs betroffen. Die Lebenserwartung beim anaplastischen Schilddrüsenkarzinom ist sehr gering. Nach der Diagnosestellung leben die Betroffenen durchschnittlich noch etwa sechs Monate.

 

Erkrankungen der Schilddrüse sind in Deutschland sehr häufig. Etwa jeder vierte Mensch in Deutschland hat gutartige Knoten in der Schilddrüse. Schilddrüsenkrebs dagegen ist selten. Pro Jahr erkrankt etwa einer von 14.000 Menschen an einem Schilddrüsenkarzinom. Die Symptome sind eher unscheinbar, daher wird ein Schilddrüsenkarzinom meist zufällig durch eine Ultraschalluntersuchung entdeckt. Zur sicheren Diagnose von Schilddrüsenkrebs reicht die Ultraschalluntersuchung allein allerdings nicht aus.

Noch genauer hinschauen 

Stuft der Arzt einen Schilddrüsenknoten im Ultraschall als auffällig ein, folgen weitere Untersuchungen wie die Szintigraphie und eventuell eine Probenentnahme aus der Schilddrüse mit einer Feinnadelbiopsie. Zudem werden bei Verdacht auf Schilddrüsenkrebs verschiedene Werte im Blut gemessen. Das Probenmaterial aus der Feinnadelbiopsie wird von einem Pathologen unter dem Mikroskop untersucht. Dieser kann erkennen, ob es sich um Schilddrüsenkrebs handelt.

Mehr als 200 Schilddrüsenkrebs-Operationen werden pro Jahr in der Universitätsklinik Halle von Prof. Dralle durchgeführt. Zum Vergleich: viele andere Kliniken lediglich zehn oder 20. Kein Wunder also, dass der Spezialist, der das Handwerk täglich wiederholt, geübter ist als derjenige, der die Handgriffe nur selten macht. In einer Rede zitierte Dralle seinen frühen Kollegen John Halle (1529-1568): "Ein Chirurg muss das Herz eines Löwen, die Augen eines Adlers und die Hände einer Frau haben." 

Früher wurde die Schilddrüse oftmals nur als Teilorgan entfernt. Er hingegen legt Wert darauf, das komplette Organ samt dem umgebenden Gewebe zu entfernen, ohne den Tumor  überhaupt zu berühren. "Wenn man ihn berührt, kann er streuen und noch gefährlicher werden."

Bei manchen Eingriffen wegen gutartiger Erkrankungen wählt der Experte sogar einen speziellen Zugang zur Schilddrüse – durch die Achselhöhle. "So etwas darf natürlich nicht auf Kosten einer höheren Komplikationsrate gemacht werden", betont er. "Aber manchen Patienten ist es wichtig – oftmals aus beruflichen Gründen – keine Narbe am Hals zu bekommen."

Ähnliche Besorgnis besteht bei Patienten um ihre Stimme, die nach einer Schilddrüsen-OP eventuell gehandicapt sein kann. "Aber nur sehr selten bei uns", sagt der Professor und erklärt, warum es bei den vergangenen 1600 Eingriffen zu keiner einzigen dauerhaften Nervenstörung gekommen ist. Sein Geheimnis: "Wir setzen während der Operation eine neue Generation einer Nervensonde ein, die während des kompletten Eingriffs ohne Unterbrechung die Nervenaktivität misst. Mit anderen Worten: In jedem Moment der OP wird der Nerv überwacht. Auf einem Monitor können wir diese Kontrolle verfolgen. Und falls der Nerv in Gefahr ist, können wir sofort unterbrechen. Die Ergebnisse, die wir mit dieser Technik und einer systematischen Erprobung erzielen, sind sehr vielversprechend. Und darauf sind wir natürlich sehr stolz. Daher kommt es, dass Menschen, deren Kapital die Stimme ist – wie z. B. Lehrer, Moderatoren, Dozenten, Sänger, Sängerinnen – lange Wege fahren oder fliegen, um sich hier behandeln zu lassen. Denn wenn die Stimme eingeschränkt ist, ist auch das Leben eingeschränkt."

Bei all dem, was der Experte sagt und tut – eines hat er tief verinnerlicht: Chirurgie heißt schneiden. Und schneiden heißt entscheiden. Seine professionellen Hände bei diesem Unterfangen hat einer seiner Patienten auf einem Gemälde verewigt, das heute in seinem Zimmer hängt. Es erinnert ihn täglich daran erinnert, um was es hier geht.

"Ich muss die Wünsche, die Erwartungen des Patienten kennen. Natürlich, der Patient will gesund werden. Aber ich muss ihm bewusst machen, dass die OP nur der Weg ist, nicht das Ziel. Die OP ist der Weg zu den Erwartungen, und dieser Weg muss penibel gestaltet und dann gegangen werden. Die Perspektive des Patienten ist für mich das, was wichtig ist."

Bei solch einem Gespräch sitzt die Patientin oder der Patient in Dralles Zimmer, dort wo wir jetzt sitzen: auf der dunkelgrünen Couch. Die Sekretärin hat die Anweisung, kein Telefonat durchzustellen. Wenn jetzt sein Handy summen sollte – er geht nicht ran. Vier Bereiche werden jetzt klassischer Weise zum Tragen kommen:

Der Patient will Prof. Dralle kennenlernen, fühlen, ob er ihm vertraut, um seine Krankheit, sein Leben in seine Hände zu legen.

Sie oder er will wissen, ob die Operation wirklich notwendig ist, oder ob es noch eine gibt Alternative gibt.

 Die nächste Frage, die Patienten beunruhigt: Wie wird die Operation ablaufen, wie lange wird sie dauern, sind Komplikationen zu befürchten, und wenn ja, welche?  

 Und last not least: Wie geht es nach der Operation weiter, muß er mit Einschränkungen leben – und wenn ja, mit welchen?

 

FAMILIE IST WILLKOMMEN

So ein Gespräch, bei dem der Spezialist auch gern Familienangehörige des Patienten mit dabei hat, dauert mindestens eine Stunde. "Normalerweise haben viele Patienten ihre Krankheit schon gegoogelt. Sie kommen also mit sehr vielen Informationen zu mir. Viele stimmen, viele stimmen nicht, manche machen Angst, manche werden unterschätzt. Insofern ist diese Zeit mit dem Patienten vor dem Eingriff sehr, sehr wichtig. Patient, Angehörige und Arzt müssen eine Beziehung zueinander aufbauen. Sie müssen zueinander Vertrauen haben. Für mein Team und mich gilt: dem Patienten zuhören, zuhören, zuhören. Nur, wer zuhört, kann auch hören, verstehen, umsetzen."

Der Chefarzt sieht, was alle sehen, aber er hat andere Antworten  darauf als viele andere. "Die Technisierung in den Kliniken schreitet voran, oftmals bleiben dabei die kranken Menschen auf der Strecke. Mir ist wichtig, dass wir technisch und medizinisch auf dem höchsten Standard arbeiten... aber dass wir Ärzte gleichzeitig unsere ganze Nächstenliebe einbringen, weil wir wissen, wie wichtig sie zum Gesundwerden ist." 

Eine tägliche Herausforderung, die nur dann erfolgreich bewältigt werden kann, wenn alle Fähigkeiten im Menschen mobilisiert werden.

 

Für ihn keine Hürde, denn mit Herausforderungen kann er gut umgehen. Letztendlich war es auch ein großer Schritt, 1994 von der renommierten Medizinischen Hochschule Hannover dem Ruf nach Halle/Saale zu folgen. Die Wende war gerade mal fünf Jahre alt. Dralle zog, wie all seine Freunde damals sagten, mit seiner Frau, seinen drei Töchtern und seinem Sohn in den "wilden Osten". Auf dem Schreibtisch stand noch das ,rote Telefon‘ des Vorgängers. Hinter den Wänden wurden noch Kabel vermutet, die der Stasi das Abhören erleichtert hatten. Niemand wußte so genau, ob sich die Dralle-Kinder auf der  katholischen Schule, die nach der Wende gegründet worden war, wohlfühlen würden. Und für Dralles Ehefrau hatte Halle natürlich weitaus weniger Flair als Hannover und Hamburg – jene Städte, die ihr im bisherigen Leben ans Herz gewachsen waren.

Der Professor ging sogar noch einen Schritt weiter: "Ich wollte nicht mit einer Truppe von neuen Ärzten kommen und sozusagen alles platt walzen. Ich wollte mein Team kennenlernen und mit ihm zusammenwachsen. Einer sollte vom anderen lernen", sagt er heute, "und genauso haben wir es gemacht." Und bekennt: "…wenngleich es absolut Tage gab, die nicht einfach und von vielen Vorurteilen geprägt waren."

Mittlerweile haben die Dralle-Kinder Halle wieder verlassen. Die Töchter sind Sprach- und Kulturwissenschaftlerinnen geworden, sein Sohn arbeitet – wie könnte es anders sein – als Chirurg an der Uniklinik in Rostock! Die Gene ticken nach wie vor.

Doch die Mission Halle ist für den Professor, der auf allen großen Kongressen der Welt Vorträge hält, noch lange nicht beendet. "Die Medizin muss sich wieder mehr akademisieren.“ Er erklärt, was das aus seiner Sicht bedeutet. "Die Forschung muss auf eine neue Basis gestellt werden. Im Augenblick findet sie oftmals nachts und an Wochenenden neben dem normalen Alltag statt. Das kann und darf nicht sein! Sie muss unbedingt unabhängig von der Arbeitszeit möglich sein und vorangetrieben werden. Denn ohne weitere intensive Forschung werden wir nicht mehr lange international gut aufgestellt sein. Und das wäre bitter. Forschung dürfen wir hier nicht vernachlässigen."

Es stehen immer wieder Leben auf dem Spiel. Es gibt noch viel zu tun.

 

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Der große Report: Prof. Dr. Henning Dralle über Schilddrüsenchirurgie & die Macht der Krebsgene

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