Er ist der Mann, dessen Stunde dann schlägt, wenn alle Menschen in die entgegengesetzte Richtung laufen. Weg vom Tod, weg vom Grauen, von Anblicken, die kaum zu ertragen sind für einen normalen Menschen.
"Ich habe keine Alpträume", sagte Prof. Dr. med Michael Tsokos, international anerkannter Experte der Forensik, nach dem Tsunami in Südostasien, der sich zum zehnten Mal jährt, "aber ich hoffe doch, dass ich so etwas wie im thailändischen Khao Lak nie wieder sehen muss. Was letztendlich zählt, ist, dass wir durch das Identifizieren den Hinterbliebenen helfen konnten, mit ihrer Trauer zu beginnen und die Ungewissheit zu beenden."
Erfahrungen und Gedanken des jüngsten UKE-Professors in einer von unwägbarer Grausamkeit zerrissenen Welt.
In seinem gerichtsmedizinischen Institut sieht er Dinge, die bei CSI oder in anderen Serien, in denen Rechtsmedizin eine Rolle spielt, in schönen Farben ausgeleuchtet sind und in denen entspannte
Pathologen die Laken von makellosen Gesichtern ziehen, damit die Angehörigen sie identifizieren können. Das hat mit der Wirklichkeit wenig zu tun.
"Das Kind hat mich an Fotos von Jungen und Mädchen in Konzentrationslagern erinnert. Die Kleine wog mit ihren sieben Jahren nur noch 8,6 Kilogramm. Ihre Haut schimmerte durchsichtig wie Pergament.
Keine Muskeln, kein Fett, nur Haut und Knochen."
Worte über Jessica, jenes kleine Mädchen aus Hamburg-Jenfeld, das nach seinem Hungertod im Kinderzimmer Schlagzeilen machte.
Der Professor erzählt von Volkan.
„Wir haben die Hunde untersucht, um zu sehen, ob sie unter Drogen standen; ob sie möglicherweise scharf gemacht worden waren. Ganz offensichtlich waren sie auch ohne Drogen zu Bestien
geworden.“
Sein Fazit, nachdem zwei Killerhunde den kleinen Volkan angegriffen, getötet und zerfetzt hatten.
Prof. Dr. Michael Tsokos, international geachtete Koryphäe am Institut für Rechtsmedizin am Universitätsklinikum Eppendorf, wurde gerade, zum Zeitpunkt unseres Interviews, an die berühmte Berliner Charité berufen.
Ich bin bei ihm zu Gast – ein symphatischer Kerl mit kurzen Haaren, braunen Augen, und einer markanten, männlichen Stimme.
Ein Mann mit Ausstrahlung und Wissen: Kein Wunder, dass seine Studenten ihn unter mehr als 150 Professoren zum besten Dozenten, zum „teacher of the year“ gewählt haben.
Tsokos ist kein Quincy und kein Firlefanz-Pathologe, wie wir sie zur Genüge aus dem Fernsehen kennen. Tsokos ist Wissenschaftler.
Was immer er tut – er will es genau wissen: Warum ist ein Mensch gestorben? War es ein natürlicher Tod, Selbstmord, oder war es Mord? Ist das Opfer erst erschlagen worden, und wurde ihm dann Gift eingeflößt, oder war es genau umgekehrt? Ist das Kind, das so grausam zugerichtet aussieht, wirklich nur von der Wickelkommode gefallen, oder wurde das kleine Köpfchen in Wirklichkeit gegen die Heizungsrohre geschleudert?
Ist ein Vergewaltigungsvorwurf zutreffend, oder ist der Vorwurf nur ausgedacht? Ist eine Frau vor oder nach ihrem Tod missbraucht worden – oder weder vorher noch nachher? Fragen, Fragen, Fragen, die die Justiz stellt, um urteilen zu können. Und die Richter fällen in vielen Fällen kein Urteil, bevor nicht Prof. Dr. Michael Tsokos sein Urteil gesprochen hat.
Die Möglichkeiten, die Wahrheit zu ergründen, sind enorm. Es wird seziert, Organe werden aufgeschnitten, Gewebeproben entnommen, toxikologische, biochemische und mikroskopische Untersuchungen können gemacht werden. Tsokos: "Ich denke, es ist sehr, sehr schwer, uns etwas vorzumachen." Selbst, wenn Tote längst beerdigt sind und nach einem Zweifel an der wahren Todesursache wieder exhumiert werden, kann das Tsokos-Team noch fündig werden. Der Rechtsmediziner: "Derzeit untersuchen wir einen Mann, der vor vier Wochen gestorben war. Seine Lebensgefährtin war als Erbin eines nicht gerade bescheidenen Vermögens eingetragen. Sinnigerweise ist sie auch Ärztin und hat dem Notarzt quasi die Todesursache diktiert: Schlagaderembolie der Lunge. Er hat seiner Kollegin geglaubt. Mehr als skeptisch allerdings war der Hausarzt, als der vom Tod seines ehemaligen Patienten hörte. Schlagaderembolie staunte er... das kann doch gar nicht sein. Schließlich hat der Patient von mir blutverdünnende Medikamente bekommen!"
So war die Entscheidung schnell getroffen, den Toten zu exhumieren und untersuchen zu lassen. In einem solchen Fall kann aus der Freude auf ein großes Erbe schnell eine Mordanklage werden.
Tsokos macht eine kurze Pause, dann beantwortet er die Frage, die ich nicht gestellt habe, die mir aber auf den Lippen brennt. Die Frage: Warum wird man Rechtsmediziner? "Wissen Sie", sagt Tsokos, "unser Aufgabenbereich ist extrem vielseitig. Wir können so viele Fragen beantworten – ohne uns wären viele Mörder noch freie Leute, und so manche vorsätzliche Vergiftung im Altersheim würde aussehen wie ein Zufall und wäre kein Verbrechen. Allerdings", und das ist ihm ebenso wichtig zu sagen, "wir schließen auch Verbrechen aus, sodass nicht etwa ein Unschuldiger für schuldig erklärt wird."
Ich frage den Experten nach seinem persönlichen Gefühl während der Arbeit. Wie stark ist beispielsweise sein Hass gegen
Jessicas Eltern, wenn er das skelettierte unschuldige Opfer auf seinem Seziertisch hat? Wenn er aufgrund des Vitamin-D-Mangels sehen kann, dass Jessica so gut wie nie in der Sonne war, immer nur im
Dunkeln?
"Natürlich steigt bei so einer Untersuchung der Blutdruck. Aber dennoch – man darf keine persönlichen Emotionen reinbringen, Gefühle muss man ausblenden. Sonst ist man nicht mehr professionell."
Und wie verkraftet man den Geruch der verwesenden Leichen am Strand von Khao Lak? "Schwer, sicher", sagt er. "Aber ich hatte da eine wichtige Aufgabe – das Identifizieren der Toten. An Hand von Tätowierungen, Hüftprothesen und Bypässen, Gefäßprothesen und Blinddarmnarben, Zahnstatus, Fingerabdrücken und DNA. Und das Identifizieren ist mir ganz wichtig! Denn nichts ist schlimmer für Hinterbliebene als Ungewissheit. Wir helfen, dass Menschen Abschied nehmen können. Und das ist ein gutes Gefühl.“
Mehr Informationen zu Prof. Dr. med. Michael Tsokos, Leiter des Instituts für Rechtsmedizin der Charité und das Landesinstitut für gerichtliche und soziale Medizin in Berlin.
Zu seinem Buch "Deutschland misshandelt seine Kinder"