Ein Abend im Jahr 1977. Ein Mann hockt im Kofferraum. Er hat kalten Schweiß auf der Stirn, Angstschweiß. Der Wagen, in dem er sich versteckt, rollt in Ost-Berlin Richtung Checkpoint Charly. Er stoppt. Kontrollen, Stimmen. Sekunden, Minuten werden zu Stunden. Das Auto fährt weiter, Meter für Meter in die Freiheit. Nach ein paar hundert Metern öffnen die Fluchthelfer den Kofferraum. Geschafft, endlich im Westen. Das einzige, was der Mann im Kofferraum bei sich hat, ist sein Rasierapparat in einer weißen Plastiktüte. Alles andere, was der Flüchtling besitzt, steckt in seinem Kopf. Immerhin ist er habilitierter Chirurg der Universität Rostock. Dieser Fluchtabend ist sozusagen die Stunde Null. Neuanfang im Westen! Mit 35 Jahren!
Zehn Jahre nach dieser Flucht aus dem längst zusammengebrochenen DDR-System wird Professor Dr. Wolfgang Teichmann (63)
Chefarzt der Ersten Chirurgischen Abteilung des heutigen Asklepios Krankenhauses Altona - und er ist es immer noch. Ein begnadeter Chirurg, der im Westen sogar seine Professur wiederholen musste, der
ein Millionen-Angebot der berühmten Mayo-Klinik in den USA abgelehnt hat. Ein Operateur, der mit Recht sagt: „ Im Bauch...da kenne ich mich aus.“ Ein Gott in Weiß? Nein! Ein Mensch, der auf dem
Teppich geblieben ist, für den der OP so etwas ist wie das zweite Zuhause. Erst vor wenigen Wochen hat er in einem seiner drei Operations-Säle dem großen Siegfried Lenz das Leben
gerettet.
5000 Menschen operiert er jährlich. Ich habe ihn im OP erlebt, habe gesehen, wie er einen Leistenbruch behandelt, wie er
einen Riesen-Tumor aus dem Darm schnitt, wie er einen Magen entfernte und einen Ersatz aus Dünndarm formte. Habe am Bett einer Patientin gestanden, die mir mit Tränen in den Augen sagt: „Ohne diesen
Professor wäre ich tot.“ Bei dieser Frau hat Teichmann ein Verfahren eingesetzt, das er selbst entwickelt und das weltweit Beachtung gefunden. Der Fachmann kennt das OP-Verfahren als
„Etappenlavage-Therapie“ - der Laie sagt dazu schlichtweg „Reißverschluss.
STERBLICHKEITSRATE DRASTISCH GESENKT
Professor Dr. Wolfgang Teichmann: „ Diese Therapie wird überwiegend bei Bauchfellentzündungen-und Vereiterungen
angewandt. Nach der Operation nähe ich den Bauch nicht gleich wieder zu, sondern nähe in die Bauchdecke ein Filzgeflecht mit einem Schienengleitverschluss. Der sieht aus wie ein Reißverschluss. Auf
diese Weise kann ich täglich, stündlich an den Bauch des Patienten heran, kann Eiter absaugen, kann spülen, kann ihn behandeln, bis er endgültig fit ist. Eine Heilung also in Etappen. Bevor ich
diesen Reißverschluss entwickelt habe, sind viele Patienten unmittelbar nach der Operation zugenäht worden... und leider ein paar Tage danach gestorben. Denn schließlich waren noch nicht alle
Komplikationen im Bauch ausgeräumt - andererseits waren die Patienten zu schwach, um innerhalb einer kurzen Zeit weitere Eingriffe unter Vollnarkose zu überstehen.“ Der Professor nicht ohne Stolz:
„Diese Therapie hat die Sterblichkeitsrate in diesem Bereich von 80 auf 20 Prozent gesenkt.“
Teichmann, ein smarter Typ mit Goldrandbrille. Als junger Sportstudent in Leipzig lief er die 100 Meter in sage
und schreibe in 10,8 Sekunden. Morgens um sieben ist er in der Klinik, um acht im OP, abends um neun zu Hause, um elf im Bett. Morgens um sieben.... Der Pieper liegt auf dem Nachttisch. „Wenn ich in
Hamburg bin, bin ich rund um die Uhr erreichbar.“ Und er ist immer freundlich, ein Lächeln für jeden Patienten. Stets ein offenes Ohr, ein liebes Wort, ein Streicheln.
Was mich besonders beeindruckte, ist eine Geste, die er eingeführt hat. Wann immer eine OP beendet ist, setzt er sich
oder einer seiner Operateure ans Telefon und ruft die Angehörigen an. Teichmann: „Das kostet fünf, sechs Sekunden... aber ist für die Menschen, die zu Hause sitzen und bibbern, doch eine
Riesenerleichterung. Ich höre jedes Mal, wie denen der Stein vom Herzen fällt.“
Ja, was eigentlich in jeder Klinik selbstverständlich sein sollte – dass der Patient im Mittelpunkt steht: Bei
Teichmann wird es wirklich praktiziert. Ein Beispiel ist die Tumorkonferenz, in dieser Form einmalig in Hamburg. Viermal in der Woche sitzen alle Kapazitäten zusammen, betrachten jede digitalisierte
Röntgenaufnahme von Tumor-Patienten. Der Spezialist: „Und dann entscheiden wir gemeinsam, wie wir vorgehen. Erst OP und dann Chemo, oder Bestrahlung keine OP... wie auch immer. Jede Entscheidung ist
eine Teamentscheidung.“ Ich frage: „Der Krebs hat also immer weniger Chancen?“ Teichmann relativiert: „Der Krebs ist ein mächtiger Gegner. Aber wir bekämpfen ihn auf allerhöchstem
Niveau.“
Die Nachfolge von Prof. Dr. Wolfgang Teichmann an der Asklepios Klinik in Hamburg Altona hat Prof. Dr. med. Wolfgang Schwenk 2009 angetreten.