Integrative Medizin

Wenn er einen Entwurf machen sollte über das Altonaer Kinderkrankenhaus, wie er es sich für die Zukunft vorstellt – fachlich, menschlich: Wie würde das Ideal aussehen in fünf oder zehn Jahren?

Am Gesichtsausdruck von Prof. Dr. Philippe Stock, stellvertretender ärztlicher Direktor, kann man erkennen, das er sich viele Gedanken um diese Frage macht.

"Oh ja. Es gibt was, was sich in den letzten Jahren entwickelt hat, was mir nicht gefällt und wo es eine bessere Lösung gibt für das Kinderkrankenhaus der Zukunft – nicht nur für unseres. Wir haben ein Abrechnungssystem, das uns auf Geschwindigkeit trimmt. Je mehr Patienten man hat, desto besser geht es uns wirtschaftlich in einer wirtschaftlich angespannten Zeit.  Natürlich haben wir alle ein Berufsethos und die Qualität steht bei uns allen an oberster Stelle. Aber dieses Abrechnungssystem nimmt darauf zu wenig Rücksicht. Zeit ist ein ganz wesentlicher Faktor, der heutzutage fehlt."

Damit trifft er genau den Nerv, den so viele Menschen – die Erwachsenen noch mehr als die Kinder – beklagen.

"Ich möchte ein Kinderkrankenhaus, in dem interdisziplinär, integrativ gearbeitet wird. Unsere Probleme sind so komplex, dass keine einzelne Berufsgruppe das lösen kann, weder die Ärzte noch die Pflegekräfte noch die anderen Gruppen, die ich genannt habe. Wir brauchen mehr Zeit als wir haben. Und ich stelle mir vor, dass wir als Krankenhaus nicht nur danach beurteilt werden, wie viele Patienten wir haben, sondern auch wie gut wir unsere Patienten betreuen. Das Thema Qualität… in unserer Vergütungsstruktur spielt  die gar keine Rolle! Und das ist nicht richtig."

Das ist nicht nur nicht fair, das ist eher skandalös, wirklich zynisch, werfe ich ein.

Er nickt und sieht alles andere als froh dabei aus. "Man kann nicht nur einfach sagen: Wir wollen mehr Zeit – das ist banal. Dass wir die Qualitätskriterien in die wirtschaftliche Bewertung mit einbeziehen – das würde uns weiterbringen."

Die Sehnsucht nach diesem Konzept ist allgegenwärtig, in jeder Visite, in jeder Teambesprechung. 

 

DIE ABRECHNUNGSMASCHINERIE ALS QUALITÄTSHINDERNIS

Wie ist es dann möglich, dass Politik und Krankenkassen dieses Feld deratig dominieren ?, frage ich nach. Ärzte und Eltern wollen etwas völlig anderes – wie kommt es zu dieser Schieflage?

Prof. Stock: "Es gibt inzwischen Firmen, die sich mit diesem Thema beschäftigen – mit objektiven Bewertungskriterien von guter Medizin. Da sind wir gefragt. Was heißt „gute Medizin“?"  

Im operativen Bereich ist das vergleichsweise leicht feststellbar, an der Zahl gelungener Eingriffe oder der Anzahl der Infekionen.

"In der Langzeitmedizin ist das schwieriger. Wir wollen auch für chronisch Kranke Kriterien entwickeln – und die heißen nicht 'reines Überleben'. Wir reden über Lebensqualität. Dass wir auch einen chronisch Kranken medizinisch gut behandeln können und dann zack, raus, der nächste, das ist klar, das können wir. Aber das ist noch nicht Lebensqualität. Die geht weit über die Grenzen des Krankenhauses hinaus. Und dafür brauchen wir diesen integrativen Gedanken."

 

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Wenn alle an einem Strang ziehen

Hier will der Professor in seinem Spezialgebiet Schritt für Schritt seine Vorstellung von integrativer Medizin in die Tat umsetzen.

"Bisher trennt es sich ein bisschen nach operativer und internistischer Medizin, was ich aber schade finde", sagt er. "Ich möchte gerne mehr Vernetzungen der Fachdisziplinen. Ich möchte in meiner pulmologischen Sprechstunge Kinder gemeinsam mit einem Psychosomatiker anschauen und betreuen. Ich möchte, dass die Gastroenterologen bei einem Kind mit Bauchschmerzen mit einem Psychosomatiker zusammenarbeiten.

Ich möchte, dass die Kinderneurologen ganz eng mit den Orthopäden zusammenarbeiten: Was hat die Halswirbelsäule für einen Einfluss auf Beschwerden im Kopf? Und so gibt es eine ganze Reihe von Vernetzungen, die wir in den nächsten Jahren noch ein bisschen besser ausbauen müssen: integrative Medizin und Interdisziplinarität in Richtung ideales Kinderkrankenhaus weiter zu entwickeln."

Ein äußerst interessantens Projekt ist eine Krankenstation, die gemeinsam mit den Psychosomatikern entwickelt wurde. Dort werden Kinder mit chronischen Bauch- oder Kopfschmerzen behandelt, "… also mit Dingen, die sowohl die physische Seite betreffen – da sind wir Kinderärzte gefragt –, als auch die psychische, was den Bereich der Kinder- und Jugendpsychosomatiker betrifft. Das ist eine echte Lücke, die wir schließen wollen und müssen."

Inwieweit hat sich die Pädiatrie dahingehend verändert?

"Es gibt viel mehr chronische Erkrankungen, aber auch viel mehr psychosoziale ... viel mehr", betont er noch einmal.

Woran liegt das aus seiner Sicht?

"Die Kinder kommen teilweise aus schwierigen Familien, aus zerrütteten Familien, sie sind häufig überfordert. Was heutzutage von den Kindern verlangt wird, übersteigt in vielem das, was früher von Kindern erwartet wurde."

 

STRESSFAKTOREN, DIE IN CHRONISCHE KRANKHEIT MÜNDEN

Der Professor nennt die drei wichtigsten Faktoren, die das innere Gleichgewicht von Kindern kollabieren lassen:

  1. Der Medienkonsum ist ein ganz wichtiges Thema: zu oft, zu lange, zu brutal.
  2. Die Leistungsfähigkeit im schulischen, sportlichen, sozialen Bereich: "Die Kinder müssen omnipotent sein."
  3. Soziokulturell, was Integration angeht, sind sie oft überfordert. Aber auch in einer Familie aufzuwachsen, die eher innerfamiliäre Probleme hat, zählt zu den Risikofaktoren

 

All dies  führt zusammengenommen dazu, dass ganz neue Krankheiten bei Kindern auftreten. "Burnout, das ist neu. Chronische Kopf-, Bauch- oder Rückenschmerzen. Deshalb ist mir die die Integration mit der Psychosomatik so wichtig."

Die entsprechende Abteilung gibt es seit zwei Jahren am Altonaer Kinderkrankenhaus und die Eltern reagieren extrem positiv auf das Konzept. "Wenn ihr Kind an chronischen Schmerzzuständen leidet, dann wissen sie, dass es eine psychische Komponente gibt", weiß Prof. Stock aus Erfahrung. "Sie gestehen sich das meist auch ein. Aber sie wissen auch, dass es eine somatische Komponente gibt und brauchen das abgeklärt, um offen zu werden für die psychischen Faktoren. Wir machen die ganze Diagnostik, weil da natürlich was sein kann – aber auch um den Kopf frei zu machen für andere Möglichkeiten."

Die Experten reden in dem Zusammenhang zunehmend von einem biopsychosozialen Modell. "Wenn wir diese Patienten abholen wollen, dort, wo sie stehen, und ihnen erfolgreich helfen wollen, müssen wir die biologische Komponente beachten, also die organische. Dann die psychische Komponente als Ursache oder auch als Folge, denn auch das ist ja ein Thema. Und dann müssen wir schauen: Was macht das eigentlich sozial mit dem Kind, mit seiner Familie?"

Er nennt belastende Beispiele. "Wir betreuen ein Reihe von Kindern, die aus solchen psychosomatischen Gründen einnässen. Stellen Sie sich mal vor, wie so ein Kind stigmatisiert ist. Im sozialen Umfeld ist es fast nicht lebensfähig. Was das wiederum bedeutet, müssen wir genau beobachten. Egal wo ich einsteige, ich komme immer wieder bei dem Kind an."

Es ist eine riesige Aufgabe, die er sich da vorgenommen hat: "Dass wir uns den neuen Problemen widmen in der Pädiatrie; dem, was alles an den psychischen Zusatzbelastungen der Kinder hängt. Dann die Transition in die Erwachsenenmedizin, und die chronisch kranken Kinder, bei denen es darum geht, ihre Lebensqualität zu verbessern."

 

Allianz zwischen Arzt, Eltern & Kind

Empfindet er das nicht als erschütternd, dass die Zahl der chronischen Erkrankungen bei Kindern so dramatisch zunimmt?

"Nun. die Situation ist komplexer", schüttelt er den Kopf. "Dies Kinder versterben einfach weniger, anders als früher. Die Erkrankungen nehmen deshalb zu, weil wir eine bessere Medizin haben – von Anfang an. Allerdings", räumt er ein, "das biopsychosziale Modell, das wird in der Tat wirklich mehr, wie Kinder mit Migräne."

Wie reagieren die Eltern, wollen sie wirklich involviert sein? Oder denken sie eher: 'Mach das Kind gesund'?, frage ich ihn.

"Es gibt immer solche und solche", antwortet er, "aber vom Grundsatz her sind die Eltern zunehmend besser informiert, besser vorgebildet. Das hat mit dem Internet zu tun. Wir haben es mit Eltern zu tun, die selbstbewusster auftreten mit ihrem Wissen und nicht mehr ganz so bedingungslos befolgen, was der Doktor sagt. Sie wollen in Entscheidungsprozesse eingebunden werden. Natürlich nicht in Akutsituationen: Da muss einfach schnell und regelhaft alles getan werden, was nötig ist. Aber wenn diese Phase vorbei ist, wollen Eltern mit entscheiden. Das würde ich auch wollen, und in unserem Freundeskreis ist das auch so."

Prof. Stock sieht diese Entwicklung sehr positiv, auch wenn das Wissen manchmal nur Halbwissen ist. "Ich bespreche meine Entscheidungen sehr gern, sehe die Eltern als Teampartner. Wir sitzen gemeinsam in einem Boot, und wir finden nur gemeinsam einen Weg, wie wir als Team an einem Strang ziehen. Manchmal kann das anstrengend sein, aber es ist das gute Recht der Eltern. Da müssen wir als Ärzte argumentativ sauber überzeugen und unsere Entscheidungen begründen. Das ist eine wichtige Weiterentwicklung. Und ganz ehrlich? Ohne die Eltern im Boot können Sie‘s vergessen."

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