John McNeal et al.

Pionier der Klassifikation und Dokumentation des Prostatakrebses, Pathologe an der Stanford University

 

Ein Vortrag von Prof. Dr. Hartwig Huland  über die Geschichte des Prostatakrebes in den letzten vier Jahrzehnten und über die vollständige Veränderung der Sichtweise, 2012-2014

Ich werde mit zwei sehr alten Bildern beginnen, die Ihnen zeigen, was wir vor etwa 20 bis 30 Jahren wussten. Sie mögen vielleicht sehen und diagnostizieren, dass dies eine Prostata ist. In dem Lehrbuch dieser Jahre – und wir wissen alle, es zählt zu einem der allerbesten – wurde sie auf diese Weise dargestellt. Und wie wir heute wissen, ist jedes einzelne Detail falsch. 

Es gibt keine dicke Kapsel, die Prostata ist keine gleichförmige Drüse, die Durchgänge der Drüse gehen nicht überall durch die Harnröhre und der Harnleiter geht nicht gerade durch die Prostata.

 

Es war John McNeal, der uns das erklärt hat, was wir heute wissen und wie die Prostata wirklich aussieht.

 

Das andere Bild, dass ich Ihnen zeigen möchte, um zu demonstrieren, was wir vor 30 und mehr Jahren wussten, ist das des großen W. F. Whitmore (aus dem Jahr 1973), dem großen alten Mann der urologischen Onkologie vom MSKCC, das uns zeigt, dass die Harnröhre nicht gerade durch die Prostata geht. Es zeigt uns außerdem, dass ein Prostatakarzinom nicht nur ein unvorhersagbarer Tumor ist. Er sagte, es ist DER unvorhersagbare Tumor.

Der Grund, warum er das sagte, ist der, dass ihm nur zwei Instrumente zur Verfügung standen, um bei jedem Patienten die Klassifizierung über das Stadium der Erkrankung vornehmen zu können: den Tastbefund mit Hilfe des Fingers und die Röntgenaufnahme der Knochen. Manchmal konnte er nichts ertasten, aber die Knochenaufnahmen waren dennoch positiv (zeigten also Tumorabsiedlungen). Und daraus ergab sich sein Rückschluss, dass sich der Tumor plötzlich sprunghaft entwickeln konnte, und damit komplett unvorhersagbar war.

 

Noch einmal muss ich über John McNeal sprechen, und ich denke, dass seine eine der wichtigsten Grundlagenstudien für unsere heutige Sicht des Prostatakrebses ist. Er fertigte eine Autopsiestudie an und er fand, wie viele vor ihm, dass 40 % aller Männer Prostatakrebs in sich tragen. Doch zum allerersten Mal machte er eine volumetrische Studie und in 100 Krebsfällen, die er fand, schätzte er das Volumen des Krebses ein und legte ein Diagramm an. Dadurch gibt es zwei Informationen: 

92 Prozent dieser Männer, wenn man die einschließt, die keinen Tumor hatten, haben einen kleinen Tumor – kleiner als 0,5 Kubikzentimeter. Da das Lebenszeit-Risiko eines Mannes, an Prostatakrebs zu erkranken, 8 % beträgt, definiert er die 8 % größten Tumoren als signifikant und die kleineren als insignifikant.

Dies war die Geburtsstunde des sogenannten histologisch (das Gewebe betreffend) nicht signifikanten Krebses, wenn das Volumen des Tumors weniger als 0,5 ml beträgt.

Die andere wichtige Information kam durch die Erkenntnis, dass es ein bestimmtes Volumen des Tumors brauchte – er sagt 5 bis 6 Kubikzentimeters – bevor er rote Punkte fand ... was bedeutet, bevor die Tumore metastasiert hatten. 

 

Einige Jahre später wurde von der Stanford Gruppe unter der Leitung von Tom Stamey, meinem Mentor und Lehrer, und John McNeal dieses klassische Papier veröffentlicht: Danach kamen sie nach der Betrachtung von 326 wuchernden Krebserkrankungen mit radikaler Prostataentfernung auf 9 morphologische Parameter (den Aufbau des Tumors betreffende Eigenschaften).  

John McNeal hat das sehr, sehr sorgfältig gemacht und er konnte zeigen, dass das Ergebnis – geheilt oder nicht geheilt – exakt mit dem Ausmaß der Bösartigkeit und der Größe des Krebses korreliert. 

Dies war die Grundlage dessen, was wir heute in der täglichen Praxis anwenden. 

 

Wir alle wissen, dass der Vater aller Nomogramme (Netztafeln zu mathematischen Berechnungen) Michael Kattan ist. Sein erstes veröffentlichte er 1990, und auf der Grundlage von nur drei prä-operativen Parametern – dem PSA-Wert des Patienten, dem klinischen Stadium und dem Gleason-Score – konnte er sehr präzise vorhersagen, wie das Ergebnis einer radikalen Prostata-Entfernung in fünf Jahren aussehen würde.

 

Ich denke, dass wir heute über 100 solcher Nomogramme haben. Sie entsprechen dem heutigen Standard und wir nutzen sie in unserer täglichen Praxis, bei jedem einzelnen Patienten. Auf der Grundlage dieser Nomogramme, die jedes Detail berücksichtigen, können wir kalkulieren, ob es ein schwerwiegender Krebs ist, ob Lymphknoten befallen sind, ob er die Kapsel auf jeder Seite durchbrochen hat, wie er sich in zehn Jahren entwickelt und ob ein Patient mit Verschlimmerung rechnen muss.

Wir nennen das heute „nomographic staging“, und es ist der Goldstandard ... es sei denn natürlich, die Bildgebung wird eines Tages so gut sein, dass wir all as nicht mehr brauchen.

 

Kontinenz und Potenz: Es war Bob Myers – und ich muss sagen, dass ich das meiste von dem, was ich heute über Anatomie weiß, von Bob Myers (Dr. Robert Preston Myers) gelernt habe –, der eine einfach wunderbare Arbeit gemacht hat.  

Kontinenz baut zu 90 % auf einem einzigen wichtigen Organ auf: dem membranen Teil der Harnröhre. Wir haben von Myers gelernt, dass dieser membrane Urether sehr kurz ist, nämlich nur 2,1 cm. Und wir müssen dieses wichtige Organ in unterschiedlichen Richtungen bei einer Prostata-Operation retten. 

 

Was mich in den letzten Jahren sehr beeindruckt hat, ist eine koreanische Forschergruppe. In MRT-Studien konnten sie nachweisen, dass bis zu 40 % dieses membranen Harnleiters versteckt im Apex (also im Spitz zulaufenden Ende der Prostata) liegen können. Und wir haben durch diese Bilder gelernt: Wenn wir die Schnitte auf der Grundlage dieses Wissens auf eine ganz bestimmte Weise ansetzen, dann sind die Ergebnisse, was die Erhaltung der Kontinenz angeht, die besten.

Das hat uns dazu gebracht, eine neue Operationstechnik zu entwickeln. Seitdem versuchen wir, die Situation im Körper eines jeden Patienten genau zu analysieren, und ich habe festgestellt, dass die Situation des Apex bei jedem Patienten anders ist. Wie wir durch die MRT-Studien wissen, haben wir es mit ganz verschiedenen Formen zu tun. Und entsprechend muss man das Apex-Gewebe individuell angepasst präparieren. Nachdem wir dieses Wissen angewendet haben, hatten wir zum ersten Mal 71 % Kontinenz nur eine Woche nach der Operation, nachdem wir den Katheter entfernt hatten. Und nach einem Jahr ist die Kontinenzrate bei 97 %. So weit dazu.

Zur Potenz: Wir wissen alle, das ist nicht neu, wo die Nerven sitzen, die dafür verantwortlich sind in der Nähe der Prostata. Viele Studien, auch unsere eigenen und  viele andere, haben später gezeigt, dass die Nerven aufsteigen an der gesamten lateralen Seite (seitlich) der Prostata . 

In diesem Fall war es eine japanische Studie, die mich sehr beeindruckt hat, weil wir bis dahin überhaupt keinen Beweis hatten, das auch die lateralen (seitlichen) Nerven wichtig sind für die Potenz. Die Japaner haben in dieser Hinsicht ebenfalls großartige Arbeit geleistet, indem sie während der Operation eine Stimulation der Nerven vornahmen – in sämtliche Richtungen und de Effekt am Penis und der Erektion gemessen haben. Durch diese Stimulation bestätigte sich die besondere Bedeutung der Nerven, die in der Position, bildlich gesprochen, auf 5 und 7 Uhr liegen. 

Das wiederum legte den Grundstein dafür, dass wir durch die Berücksichtigung dieser Nervenverläufe bei den Schnitten exzellente Ergebnisse bei der Erhaltung der Potenz bei denjenigen erzielten, die auch vor dem Eingriff potent waren (den jeweiligen Status der Potenz haben wir vor dem Eingriff abgefragt).

 

Nun kommt der für mich wichtigste Teil dieser Präsentation. Die Frage, die auftauchte war: Wie können wir unterscheiden, bei welchen Patienten wir die nervenschonende Methode anwenden können – und bei welchen nicht? Dies ist wichtig, da die Nerven so dicht an der Prostata kleben, dass der Tumor sie infiltrieren kann.

In der Vergangenheit haben wir Nomogramme und klinische Parameter angewendet, um die Patienten zu identifizieren, wo der Krebs die Nerven noch nicht infiltriert hat. Mit bloßem Auge kann der Operateur das nämlich nicht erkennen. Wir alle wenden nun zu 100 % – 100 %! – in der Martini-Klinik während der Operation die sogenannte frozen section an (Gefrierschnitte). Während diese Gefrierschnitte noch untersucht werden, in denen innerhalb von 30 bis 40 Minuten festgestellt wird, ob der Tumor die Kapsel durchbrochen hat, entnehmen wir die Lymphknoten, damit für den Patienten keine Zeit verloren geht.

 

Ich werde Ihnen dazu nur zwei Informationen geben: Der größte Vorteil ist aus meiner Perspektive, dass wir die nervenschonende Methode durch die Gefrierschnitte während der Operation öfter anwenden. Wir wenden sie bei 96 Prozent aller unserer Patienten an!

Nur mal zum Vergleich: Wenn Sie dies mit unseren alten Daten vergleichen, dann sehen Sie, dass in einem Zentrum, das wir alle kennen, die nur klinische Kriterien benutzen (und keine Gefrierschnellschnitte) 50 bis 60 % nervenschonend operiert wurden. 

Ein Vorteil ist also: Wir operieren viel öfter nervenschonend und die zweite Frage, die auftaucht, ist: Gibt es ein onkologisches Risiko (also eines, dass den Verlauf der Krebserkrankung insgesamt betreffend)? Die Antwort ist einfach: Nein. Wir haben eine Menge Daten, die wir schon bald veröffentlichen werden Die sogenannte positive margin rate (die anzeigt, ob es noch Tumorzellen am Rande des entfernten Gewebes gab) ist um 50 Prozent reduziert. Aber natürlich ist auch die weitere Verfolgung der PSA-Werte äußerst wichtig.

 

Wir haben die unterschiedlichen Methoden unter den unterschiedlichsten Bedingungen und Tumorstadien verglichen, mit dem Ergebnis, dass sich die nervenschonende Methode in keiner Weise negativ unterscheidet – auch, was das erneute Ansteigen von PSA-Werten angeht. 

 

ZU GUTER LETZT: ONKOLOGIE – WO STEHN WIR HEUTE?

 

Wir alle wissen, dass die Heilung sehr von den durch PSA-Werte entdeckten Tumoren abhängt. 

Eine Studie aus unserer Klinik zeigt nur Patienten, die ein Follow Up für mindesten 10 Jahre hatten. Und da konnten wir zeigen, was wir alle auch aus anderen Literaturquellen wissen, dass wir eine hohe Heilungsrate von 87 % bei pT2-Tumoren haben, bei pT3-Tumoren 50 % .

 

Neu ist ein Paradigmenwechsel in den letzten 5 bis 6 Jahren. Wir sind früher davon ausgegangen, dass wir die lokal fortgeschrittenen Tumoren selbst nach einer radikalen Prostatentfernung nicht heilen können. Doch die Ergebnisse einer multizentrischen Studie an  mehreren Kliniken, an der auch wir beteiligt waren, zeigen, dass wir, was immer Sie als Bewertungsgrundlage für die Art und das Fortschreiten des Tumors zugrunde legen, wir 26 bis 42 Prozent der regional fortgeschrittenen Tumoren heilen konnten. Das hätten wir vor 10 Jahren nicht für möglich gehalten. 

 

Zusätzlich haben wir folgendes festgestellt und das ist äußerst interessant, was die Biologie eines Prostatatumors angeht. In den alten Zeiten, haben wir 150 Patienten beobachtet, bei denen wir die Lymphknoten entfernt haben, und wenn sie befallen waren, haben wir die OP gestoppt. Wir haben die Prostata im Körper belassen. Später haben wir bei positiv befallenem Lymphknotenbefund die Prostata trotzdem entfernt. 

So hatten wir die Chance, diese zwei Gruppen zu vergleichen. Und es stellte sich heraus, das die Überlebensraten, wenn man die Prostata mit entfernt – selbst, wenn die Lymphknoten befallen sind – die Entwicklung der Krebserkrankung insgesamt einen um Jahre positiveren Verlauf nahm. Wir reden hier nicht von kurzen Zeitabständen, sondern von 3 bis 5 Jahren. Sehr interessant, was die Tumorbiologie angeht. Und ich hoffe, wir finden Antworten darauf!

 

Und als Ergebnis sehen wir eine Veränderung in der Verteilung.

Im Anfang hatten wir nur 30 % pT2-Tumoren, das stieg auf 80 %, und nun haben wir viel weniger pT2 – 60 % – und nur 11% Stage 3, weil Tumoren insgesamt viel früher entdeckt werden. 

 

Die radikale Prostataentfernung, das wissen wir, ist eine sichere Methode. Bei den letzten 5000 Operationen gab es keinen Todesfall, weniger als 0,2 % Verletzungen der Harnröhre oder des Rektums, weniger als 5% Bluttransfusionen. ABER: Wir wissen alle, dass das vom Chirurgen abhängt. Es ist sehr gut dokumentiert – nicht nur für diese, sondern für viele, viele andere Operationen –  dass wir eine Lernkurve haben. Die Kurve des MSKCC zeigt uns, dass die Ergebnisse eines Chirurgen nach 250 Operationen anfangen, stabil zu werden. Auch danach können sie noch besser werden. Es gibt also eine Auswirkung auf jedwedes Ergebnis, chirurgisch, onkologisch und vieles andere, die davon abhängt, wie viel Erfahrung der Chirurg hat. Wir wissen das.

Wir operieren zunehmend ältere Patienten. Es gab eine Zeit, da haben wir gezögert, einen Mann zu operieren, der älter war als 70. Bei einem so langsam wachsendem Tumor muss man nur die behandeln, die eine weitere geschätzte Lebenserwartung von mindestens 10 Jahren haben. Wir haben unsere Daten aus dem Jahr 2002 verglichen, wo in der Tat 93 % unserer Patienten unter 70 waren. Dann gab es 6,7 % , die zwischen 70 und 75 waren und gar keine, die noch älter waren.

Das hat sich geändert. Jetzt sind 14 % älter als 70 Jahre, und das hat demographische Gründe. Die Lebenserwartung eines Mannes steigt jedes Jahr um zwei bis drei Monate. und ich habe interessante Daten vom Max-Planck-Institut in Rostock bekommen, das darauf spezialisert ist. Sie besagen: In jeder Gruppe – 65 Jahre, 70 Jahre, 75 Jahre – gibt es eine Gruppe der 25 % gesündesten. Und wenn man zu dieser Gruppe gehört, wird man im Mittel 90 Jahre alt.  Das ist ein in Kriterium, ob man Patienten behandeln sollte oder nicht.

 

Das Fazit:

Prostatakrebs ist ein heterogener (ungleichmäßig aufgebauter), aber einigermaßen vorhersagbarer Tumor – auch, wenn das noch besser werden könnte.  

∞ PSA ist ein guter Marker für frühzeitige Erkennung, die Prognose, das Stadium des Tumors und die spätere Überwachung.

∞ Die Heilungsraten liegen bei 70 bis 80 Prozent der Tumoren, die durch den erhöhten PSA-Wert entdeckt wurden und bei 30-42 % der Tumoren, die sich im Gebiet bereits ausgebreitet haben.

∞ Die Einschränkungen sind minimal nach der lokalen Behandlung, was Kontinenz und Potenz angeht. 

 

 Aber wir haben Probleme bei der Ätiologie (Erkenntnis der Ursachen). ∞ Deshalb haben wir auch noch keine zuverlässige Prävention. 

∞ Wir suchen nach spezifischen Markern für eine noch frühere Erkennung und für ein Screening.

∞ Wir suchen auch nach Prognose-Markern (den Aussichten des Patienten), um eine Überbehandlung zu verhüten. 

∞ Und wir würden gerne besser werden in der individuellen Vorhersage der Lebenserwartung. 

∞ Die Bildgebung macht definitiv Fortschritte. 

∞ Und wir suchen nach einer Therapie für den metastasierenden Tumor, der nicht auf die hormonelle Kastration reagiert (die eigentlich angewendet wird, um das Tumorwachstum zu unterdrücken).

 

Zum ersten Mal habe ich Hoffnung, dass einige dieser Fragen bald beantwortet werden. Es gibt eine Initiative, ICGC genannt: ein internationales Genom-Projekt; Grundsatzforschung, die  über 50 Tumorarten auf ihre Gene hin analysiert. Deutschland unterstützt drei der Projekte. Eines, nämlich das vom Prostatakarzinom, betreuen wir in Kooperation mit Grundlagenforschern aus Deutschland in der eigenen Klinik.

 

Extract Presentation as of 2012 on YouTube: https://www.youtube.com/watch?v=0Frb8DPKjkk (in English)

 

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